MASTER
NEGA TIVE
NO. 93-81601-25
MICROFILMED 1993
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES/NEW YORK
as part of the
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A UTHOR:
FORCHHAMMER, PETER
WILHELM
TITLE:
ARISTOTELES UND DIE
EXOTERISCHEN...
PLACE:
KIEL
DATE:
1864
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
PRESERVATION DEPARTMENT
BIBLIOGRAPHIC MICROFORM TARGET
Original Material as Filmed - Existing Bibliographie Record
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Forchhammer, Peter Wilhelm, 1801-1894.
Aristoteles uiul die exoterischeii reden. An Ad. Trendelen-
bürg von P. W. Forchhaninier. Kiel, K. Homann, 18C4.
Ip. 1., 64 p. 211-,
Master Negative #
^^1. Aristoteles. iTlUe. n. TlUe : Die exoterischen reden. Arlgtotele«
Mbrary ..f Congress B485.F6 38-18368
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EXOTERISCHEN REDEN.
AN AI). TKFJDELENBÜRG
VON
P; W. F 0 ß C H H A M M E R.
KIEL.
ERNST HOMAiNN.
1864,
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Lieber Trendelenburg.
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Auf dem Gymnasium hatten wir einen Lehrer, der
sich in dem Gedanken gefiel, wir seien heute auf
demjenigen Standpunkt geistiger Entwickelung oder
vielmehr geistigen Verfalls, den man in Beziehung
auf das Alterthum durch den Namen des Alexandri-
nischen Zeitalters charakterisirt. In aUen wesentlichen
Zweigen der Wissenschaft und Kunst, und selbst in
seiner ethischen Würdigkeit und politischen Befähi-
gung habe Europa und namentlich Deutschland den
Höhenpunkt erreicht. Grammatik und Lexica, allen-
falls Mathematik und Technik, das seien die Dinge
worin unsere Zeit sich auszeichne. So sei es aber
auch nach der Einrichtung der Welt nothwendig,
und darum sei auch nichts daran zu ändern.
Mir wollte die Rede durchaus nicht gefallen.
Dass es so sei, vermochte ich freilich nicht zu wider-
legen, allein dass es so sein müsse, dass nichts
daran zu ändern sei, gab ich in meinem stillen Sinn
nicht zu, vielmehr sträubte ich mich dagegen auf
das Entschiedenste. Kein Gedanke hat mich seitdem
so begleitet, ich möchte sagen so verfolgt, und ist
von mir so als ein Feind behandelt, wie dieser. Mein
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alter Lehrer war längst aus dieser grammatischen
Zeit geschieden; ich hatte meine Studien auf der
Universität vollendet, sah vieler Menschen Städte
•*\ii^: id^t^ &|rjn:Sinn kennen, und immer wieder
./.^^in!f9?k'.!^i'4.%i^ an jene Behauptung, oft
V 4^iJ;^'tÄtk^Mi:$S^,e^^ als jener angeführt, wie die
^igt^we/.Krfal^ng schwerer zu verneinen ist, als die
Öefliite/. /UeliBall umsummte mich das „Alexandri-
nische Zeitalter" mit allem Kleinlichen und Unwahren,
welches im Gefolge des „Verfalls" zu sein pflegt.
Wer nun das „quisque praesumitur bonus"
nicht als ein Princip sich angeeignet, sondern blos
nach einer angebornen Neigung ohne irgend ein
eigenes Verdienst, und trotz widersprechender Er-
fahrung immer wieder, als wär's ein Fehler, darin
zurückfällt, dem möchte es ähnlich ergangen sein,
wie mir. Wenn auch Jahr nach Jahr Erfahrung
lehrte und Praxis, so wuchs ich doch, wie ein Freund
mir vorzuwerfen pflegte, aus jener naiven Auflussung
nicht heraus, die nach seiner Meinung nicht lange
über die Mündigkeit hinaus dauern dürfe.
So kam es, dass ich auf meinen W^anderungen,
wenn auch oft den Satz meines Lehrers bestätigt
und mich von meinem Feind, der mich in da« Alexan-
drinische Zeitalter versetzen wollte, besiegt glaubte,
doch immer mit meinem Widerstreben augenblick-
lich wieder aufstand und von Neuem gegen ihn an
ging. Hätte ich nun eine Autobiographie zu schreiben,
80 könnte ich vieles erzählen von grossen Männern,
die klein geworden, und hochgestellten, die niedrig
waren War ich doch zugegen gewesen, als ein
neuer Staat gemacht, und alte Staaten in neue ver-
wandelt wurden. Je weniger mir einer bekannt
war, je höher stehend in Würden und Amt als
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Staatsbürger, desto besser und weiser erschien
mir der Mann. Ich glaubte es so von den alten
Hellenen gelernt zu haben. Und doch, wie oft war
in wenigen Monaten, ja in wenigen Tagen Weisheit
und Gutsein dahin. Also, dass „der gute Mann und
der gute Staatsbürger derselbe sei" galt nicht einmal
von den Hochgestellten. Capodistrias schrieb einmal
an Herrn von Stein: „ich fürchte, wir Diplomaten
sind nicht gute Menschen." Was daran Wahres sei,
bleibe Andern anheim gegeben. Bei den Griechen
gehörte zum gut sein auch kundig und weise sein;
ohne die Tugend des Verstandes war die übrige
Tugend keine. Aristoteles würde sich daher anders
ausdrücken. Er würde sagen, nicht ich fürchte, son-
dern ich sehe, dass die Staatsmänner, welche im
Kleinen und Grossen die Staaten regieren, diese
Archonten der menschlichen Gesellschaft, welche im
Besitz des regierenden Logos zu den ethischen Tu-
genden der Regierten sein sollten, sehr oft recht
unkundig und unweise sind. Ueber jeden Act der
Regierenden findet sich in seinem Werk ein Urtheil,
welches nur zu oft eine Verurtheilung ist. Wenn
das Wahre und Rechte sagen gleichbedeutend ist
mit Hass und Verachtung gegen die Regierung er-
regen, dann schwebte dieser praktische Lehrer der
erhabensten Ansichten y wenn er heute lebte, fort-
während zwischen Anklage und Verwarnung. Denn
er hat weder wie Schilkr seinen besten Staat auf
„wenige auserlesene Cirkel" beschränkt, noch wie
Fichte ihn auf „Myriaden Jahre" hinausgeschoben.
Während ich so scheinbar den Pessimisten das
Wort redete, trat ein solcher vom schlimmsten
Schlage zu mir in's Zimmer, einer von jenen Heulern
mit scharfem Verstand und unverkennbarer Blindheit.
1*
Er hatte aus Las au Ix interessanter Schrift über
die Geologie der Griechen und Römer folgende Stelle
aus dem Cyprianus aufgegabelt, welche er nun, bei
allen seinen Freunden umherrennend, mit grosser
Selbstbefriedigung ihnen vorsetzte: „Du sollst vor
allem wissen, sagt Cyprianus, dass die Welt gealtert
ist, und nicht mehr die Kräfte besitzt wie vormals.
Die Welt selbst bezeugt in so vielen Zeichen der
Hinfälligkeit ihren nahen Untergang. Im Winter
fehlt es an Regen, im Sommer an der nöthigen
Wärme; selbst die Berge sind erschöpft, man gräbt
weniger Marmor, weniger Gold und Silber, die
Metalladern sind wie versiegt. Alles verschlimmert
sich, Ackerbau, Schiffahrt, die Redlichkeit der Ge-
richte, Freundschaft, Wissenschaft, Kunst, Sitten.
Alles was seinem Ende nahe ist, nimmt ja ab. Das
ist ein göttliches Naturgesetz, dass alles, was ent-
standen ist, wieder vergeht, dass starke Dinge
schwach, grosse klein werden und endlich ganz auf-
hören."
Dass Cyprianus schon im Jahr 258 den Mär-
tyrertod erlitten, dass von dem Meisten, worüber er
klagt, heute das Gegentheil wahr ist, bemerkte der
Gute gar nicht. Es hinderte ihn daher nichts auf
Grund jenes „Orakels" fortzufahren: Mit der Deut-
schen, mit der Europäischen Bildung sei es jetzt am
Ende; wenn auch die Welt nicht untergehe, so sei
doch das Vorhandene alt und lebensunfähig, es sei
kein Glaube mehr in der Welt ausser jenem von
den Regierenden für brauchbar erkannten und von
gewissen Kreisen „protegirten" ; es gebe keine Moral
mehr, am wenigsten im Öffentlichen Leben, Rohheit
und üngeschliffenheit gelte für Charakter, wirkliche
Charaktere seien verdächtig, nicht einmal die Pflicht
<
der Dankbarkeit vermöge vor dem Reiz des Ver-
läumdens zu bewahren, und die sophistische Nichts-
würdigkeit, mit beliebiger Ausdeutung des formalen
Rechts das grösste Unrecht, Tr^i^ ro litov (rvfxcpe^ov^
zu rechtfertigen, wachse mehr und mehr zu einer
abschreckenden Virtuosität. Es könne auch nicht
anders sein. Wenn ein Volk culminirt habe, gehe
es moralisch und intellectuell zu Ende. Philosophie
und Poesie, Wissenschaft und Kunst hätten in Deutsch-
land ihre Höhe erreicht. Was denn nach Schiller
und Göthe, nach Kant und Hegel noch zu erwarten
sei? In staatlicher Beziehung sei vollends alles aus.
Wie denn ein vernünftiger Mensch glauben werde,
dass aus dem zerfahrenen Deutschland noch eine
Einheit werden könne? Zerspalten durch Katholi-
cismus und Protestantismus, durch Zollverein und
Handelsfreiheit, durch Preussenthum , Bayernthura,
Bückeburgthum , durch österreichische Sympathien
und Anthipathien büsse es neben der Einheit auch
mehr und mehr das Bischen Freiheit ein, die dem
Bestehen der trennenden Elemente gefährlich und
daher nicht zu dulden sei.
So jener. Ist es denn wahr, dass Europa oder
dass Deutschland in irgend einem Wesentlichen seiner
Bildung die Höhe erreicht habe, von der es nur ein
Herabsteigen gebe? Diese Culminationstheorie in
ihrer Anwendung auf Deutschland beruht auf Un-
wissenheit und Kleinmuth, zum Theil sogar auf einem
sehr absurden Dünkel. Wir meinen nur zu leicht
in allem Grossen, das ein Volk leisten kann, es schon
recht weit gebracht zu haben. Und wenn wir uns
nun mit andern Völkern, solchen, die wir kennen,
wenn wir uns mit den Griechen vergleichen, sind
wir da berechtigt zu sagen: wie jene in dem, wozu
sie den Keim in sich trugen, zu einer vollständigen
Entwickelung gelangt sind, so seien es auch die
Deutschen? Jetzt sei daher auch für sie die Zeit
da, sich mit materiellem Fortschritt zu genügen, im
üebrigen sich auf das Hinabsteigen zu rüsten ?
Ganz zu Grunde gegangen sind unter den uns
bekannten Culturvölkem wohl nur wenige und an
Ausdehnung geringe; in andere grössere, mächtigere,
geistig höhere übergegangen sind viele. Ein Bei-
spiel einer durch Verjüngung neu beginnenden Ent-
wickelung desselben Volks sehen wir in ihren An-
iUngen in dem heutigen Griechenland. Eine solche
Verjüngung wird hauptsächlich auf zwei Wegen ge-
schehen, entweder durch Einwanderung und Ver-
mischung mit einem andern Stamm, oder durch den
Einfluss einer neuen mit den Geistern sich ver-
mischenden Cultur. Offenbar ist die letztere Art
der Verjüngung die höhere, die des menschlichen
Geistes würdigere, erfreuliche. Diese Verjüngung
hat die Deutsche Nation zweimal erfahren. Zuerst
durch die Einführung des Christenthums, dann durch
die Einführung des Griechischen und Römischen
Alterthums, in deren Gefolge die Reformation auf-
trat und mächtig wurde. Diese Verjüngungen haben
so statt gefunden, dass keine die andere aus-
schliesst, vielmehr eine die andere ge-
fördert hat, und dass beide noch fort-
während in ununterbrochener Thätigkeit
fortwirken. Christenthum und Alterthum
sind die beiden „Ursachen der Bewegung" unserer
ganzen Bildung, durch die sich das angeborne
Deutsche Wesen zu dem entwickelt hat, was es
jetzt ist. So wenig beide bisher ihre Kraft in der
Vervollkommnung des Volks erschöpft haben so
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wenig sind sie die einzigen Mittel der Verjüngung
geblieben. Vielmehr haben sie vereint uns auf den
Standpunkt gestellt, auf dem wir gegenwärtig uns
ein neues Mittel der Verjüngung schaffen und als
solches uns aneignen, die Kunde der Natur
und ihrer Kräfte, der Welt mit Einschluss des
Menschen.
Hat denn nun das Deutsche Volk durch das
Christenthum, das es noch lange nicht in seiner
vollen Wahrheit auch nur annähernd in sich ver-
wirklicht hat; durch das Alterthum, das es noch
lange nicht als sein eigenes geistiges Jugendthum
erkannt, dessen geistigen Inhalt es noch lange nicht
als die Weisheit einer grossen umfangreichen Er-
fahrung zu der seinigen gemacht; durch die Natur-
wissenschaft, deren praktische Macht trotz aller
bisherigen Anwendung doch erst im Anfang einer
nicht zu berechnenden Entwickelung zu sein scheint,
um die Befreiung des Menschen von „banauser**
Arbeit, die Befreiung von drängender Sorge um
„äussere Güter," die Befreiung von „Geist und
Tugend behindernder" bloss körperlicher Anstren-
gung und Mühsal zu ermöglichen, und zugleich jene
Aristotelische Freundschaft, die Bedingung aller
Vereinigung, auch der staatlichen, trotz ganz
anderer Zwecke der Chrematisten und durch die-
selben zu fordern, — hat das Deutsche Volk durch
diese mächtigen Elemente der Verjüngung schon
die Höhe erreicht, welche wns im Verhältniss zum
Glauben, Wissen und Können, weit über die Griechen
erheben müsste, und nun zu d>er eitelen Voraus-
sicht des Niedersteigens und allmäligen üntergehens
hinabstimmte?
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Wir sagen Nein! Und doch, wer kann die be-
trübenden Symptome wegläugnen, wie das Christen-
thum vielen nur eine ntttzliche Einrichtung sei ent-
blösst von dem Glauben an ein Künftiges; wie
das Alterthum vielen nur eine bildende Unterhal-
tung für die „Feinen" sei, ein Vergangenes ohne
Werth filr die Gegenwart, ein unpraktisches Wissen;
wie die Naturwissenschaft oft nur von dem ordi-
närsten Realismus in Dienst genommen wird, die-
nend einer Gegenwart von heute auf morgen,
ja sie selber verzichtend auf alles ausser ihr selbst,
den Geist wegwerfend wie ein Bagatel und die
Wissenschaft vom Geist betrachtend als eine menschen-
freundliche Thorheit für Knaben und gutmüthige
Alte.
So erscheinen die Mahnungen, dass wir hinab-
steigen, immer wieder sich zu erneuern. Und wie
sehr auch die Ansicht von dem Er in der Welt
gegen die Ansicht von dem Es ankämpft, wie klar
uns auch bewiesen ist — um ein Beispiel anzuführen
— dass nicht das Verhängniss, die Verhältnisse, das
Gesetz der Schwere, des Wechsels oder wie man
es nennen mag, die Macht des staatsfeindlichen
Despoten Europa's brach, sondern Er, zunächst
der eine Mann und mit ihm alle die Männer, die
«ich ihm anschlössen; dennoch tritt immer heute
mehr, morgen vielleicht weniger die Ansicht hervor,
es lasse sich mit dem besten Streben für den besten
Zweck, mit der in uns liegenden Ursache des Ziels
nicht ankämpfen gegen die ausser uns liegende
Ursache der Bewegung, die rückwärts liegt in den
Dingen, wie sie einmal geworden. Der einzelne
Mensch möge nach Zwecken handeln, d. h. mit
Freiheit, weil er will, die Nationen entbehren dieser
Kraft, in ihnen sei, was wir Tugend und freies
Wollen nennen, natürlicher Zustand und dadurch
bedingte Nothwendigkeit.
Mit dem Vertrauen zu dem, der alles tiach
Zwecken ordnet, weil er will, nicht nach physischen
Ursachen, weil er muss, und überzeugt, dass auch
in einem Volk das rechte Ziel die Ursache der
Bewegung werden kann, lernte ich früh als Dein
Contubernalis jenen trefflichsten Hellenen kennen,
der mir seit dem immer ein treuer Begleiter und
treuer Freund gewesen, und, wie Du aus diesem
siehst, ein treuer Führer. Es macht mir Freude,
Dir heute zu senden, was ich für den Augenblick
über ihn zu sagen habe.
Dasselbe betrifft eine Frage, die an sich von
keiner grossen Wichtigkeit zu sein scheint. Denn
ob jene „exoterischen Reden" wirkliche Gespräche
gebildeter Griechen, oder erdichtete von Aristoteles
in besonderen Schriften dargestellte waren, scheint
kaum eine Bedeutung zu haben, in so fern diese
Schriften verloren gegangen und uns unbekannt
sind. Doch hat die Erkenntniss des Wahren immer
ihren Werth: und die Untersuchung über die „exo-
terischen Reden" führt nothwendig auf Fragen,
welche, wenn auch einer weiteren Ausführung be-
dürftig, doh auch kurz zu berühren der Mühe
nicht unwerth sein möchte. Denn es handelt sich
um nichts geringeres, als zu entscheiden, ob und
wie weit auch ausserhalb der Akademie der Stoa
und des Lykeions die Seele, die Kunst und
das Handeln, die Weise des Regierens,
das beste Leben und seine Güter, die Zeit
und die Ideen Gegenstände der Unterhaltung unter
den Griechen und namentlich unter den Athener^i
10
gewesen sind. Diese Gegenstände haben alle ihre
praktische Bedeutung und konnten eben so wenig
im Leben als in der Lehre unbeachtet bleiben , am
wenigsten unter einem durch Wissenschaft, Kunst
wnd Politik so gebildeten Volk.
Aristoteles stand am Ende der Blüthe Griechen»
lands. Seine praktische Philosophie war entstanden
auf Grund dessen, was er selbst erlebt und erfahren
hatte. Sie war das Erzeugniss einer früheren Praxis-
ist aber selbst bisher nie praktisch geworden, weder
durch Griechen und Römer noch durch die Scho-
lastik der Bettelmönche. Und doch sagt er selbst,
er schreibe sie nicht um des Wissens willen, son-
dern damit die Menschen gut werden. Frei-
lich, trotz des Lobes, welches der Ethik und Politik
des Aristoteles gespendet wird, wenn heute jemand
dieselben empfehlen wollte, damit die Menschen
gut und weise werden, würde mancher das wohl
sonderbar und überflüssig finden. Dennoch bin
ii'h der Ueberzeugung, dass, wenn erst die wissen-
schaftliche Arbeit der Neubelebung der erhabenen
Ansichten und Lehren des grossen Griechen gethan
ist, die praktische Wirkung in einem hohen Grade
eintreten wird und in grossem Umfang. Es giebt
keine praktische Weisheit, die dem gewöhnlichen
Wissen und Begreifen der Menschen so zugänglich
gemacht werden kann, wie diese. Du erinnerst
Dich, dass mein Aristotelisches Demokratenbüchlein
von 1848 dazu einen Versuch machte. Das Ziel
der Lehre des Aristoteles ist die Erreichung des
höchsten menschlichen Ziels, die auf der einigen
ethischen und dianoätischen Tugend beruhende
Gltckseligkeit durch das an sich Gute und um des
^ sich Guten willen, unbc^kümmert um die Freude
r.
11
und den Genuss, welche nur aber auch sicher „in
ihrem Gefolge" sind. Die Eudämonie, im echt-
aristotelischen Sinne gefasst, verdient nicht von der
christlichen Ethik verschmäht zu werden. Möchte
er doch selber sie als ein Geschenk der Gottheit
(tcctrec Ttvoc Beluv fjLoi^ocv) ansehen, mehr denn irgend
eine andere Gabe. Er fügt aber hinzu, wie sie
erreicht wird; denn von selbst kommt sie nicht.
„So viel ist klar — so lauten die schönen Worte
im ersten Buch der Ethik — dass, wenn die Glück-
seligkeit auch nicht unmittelbar von Gott gesandt,
sondern durch Ueben und Lernen gewonnen wird,
sie etwas wahrhaft Göttliches ist. Sie kann aber
auch ein allen Gemeinschaftliches werden; denn es ist
möglich, dass sie durch Erziehung und Unter-
richt allen zu Theil wird." Das ist der wenig
erkannte Kern seiner Ethik und Politik und seines
besten Staats, dass derselbe sich selber schaflft,
indem er den Unterschied und den Wider-
spruch zwischen dem guten Staatsbürger
und dem guten Mann aufhebt — durch
Erziehung und Unterricht. Der Cultusminister
in unseren Staaten, wenn er neben der Einsicht
auch Muth hat, ist der mächtigste Mann der Zukunft,
und der glücklichste wie der verantwortlichste Ver-
mittler jener göttlichen Gabe.
Dein
P. W. Forchhammer.
Kiel im Sept. 1863.
Die üiitersiichurigeii über die bei Aristoteles
öfter erwähnten Xoyoi e^coreftKol gehen meistens von
den Ansichten aus, welche sich bei den Commenta-
toren oder anderen nach-aristotelischen Sehrifstellern
über dieselben ünden, und suchen z. Th. auf einem
sehr weiten Umwege ihr Ziel zu erreichen. Indessen
kann es niemandem , der sich mit dem Aristoteles
beschäftigt, entgangen sein , dass sich aus den Spä-
teren sehr selten etwas für das Verständniss des
Aristoteles gewinnen lässt, was nicht besser aus den
uns erhaltenen Schriften des Philosophen sell)8t ge-
schöpft wird. Es schien sich uns daher auch rück-
sichtlich der erwähnten Frage stets zu empfehlen,
vor der Hand alle Umwege zu vermeiden, und,
indem wir grade auf das Ziel losgehen, beim Ari-
stoteles selbst anzufangen. Es sind nicht weniger
als acht Stellen oder, mit vorläufiger Umgehung
zweier in den Endemien, wenigstens sechs, deren
Aristotelischer Ursprung nicht bezweifelt wird, in
denen f^ajrsfmol hiyoi erwähnt werden. Wir wollen
sie alle vollständig dem Leser vor Augen legen,
und demnächst die einzelnen näher betracliten. Wir
befolgen namentlich rücksichtlich der Stellen aus der
Etkik und Politik die muthmassliche chronologische
(Ordnung, in der sie von Aristoteles geschrieben sind.
13
1) Nikom. Ethik 1, 13.
^flTt'ov Oi TouTa)v Xoc^iv Koc) e<p' oa-ov hotvZs e%f/ tt^os
rd ^ffTovfxevoc' ro yocf eVl 7rhs7ov i^ocK^tßovv i^yo^ihre^ov
hcos lar) roov Tr^oKstfxevoov. heyercct ie ire^) uvtyis
koc) iv ro7ff i^oore^iKol^ Koyois d^Kovvrcos llvtoc
K«J x^viariov uvrols' olov ro /Jih ähoyov ocvrris
eivoci^ ro de Xoyov e%ov.
2) Nikom. Ethik 6, 4.
Toü öi hSsxoiJLhov äKKa}s e%f/v eVr/ rt koc) TFotfjTov
ym) TTfaxTov, Isrs^ov S' kr) Troiricns koc) Tr^ä^ts-
Trtarevofxsv is iseq) ocvrZv koc) rols ll^oars^iKols
hoyotff,
3) Politik 3, 6.
*AAA« fXYJv koc) r?i- «^%>Jf touV KeyofJLnovs r^o-
Ttovs ^ocitov AfAflv* koc) yoc^ Iv rolff e^oor8^iKo7^
Koyois ^to^i^ofxedoc Tts^) ocvrZv iroKKocKis,
4) Politik 7, 1.
^oixlaocvrus ouv IkuvZs ttoKKoc Xkystrdoci koc)
roov iv rols i^oars^iKols Koyois Tfeq) rY\s dqi(rrf\s
ia)ns koc) vZv x^vjarhv ocvrols. oos oiKf]bZs yoc^
TT^os ye fxluv Stocl^eaiv ovie)s cc/xCptaßyirriaetev uv oos ov
r^tSv ova-Sv fxe^lioovj rSv re sKros koc) roov Iv
tJ (Toofxxn koc) rSv Iv r^ ^^ü%?, TFocvrx rocZroc
usTflt^%f/v rols fjLocKoc^lois <51f7.
5) Endemische Ethik 2, 1.
Ueivroc <5>i rocyocdoc tj hros rj Iv \J/ü%Jf, koc) rovroov
oclqeroore^oc rd Iv rj \|/li%J, Kocödits^ Stoci^ovfxeÖoc
koc) Iv rols i^oore^tKols Koyois*
6) Physik 4, 10.
'E%oV«^ov ie roov el^yjfjLevoov i(rr)v sTFeXÖslv Tfep)
X^ovov* TT^atrov de kocKSs f%F/ Stoc7rofilj(roct ireq)
ocvroZ koc) otd roov e^oorefiKav Äoyav, TTorefov
1.
V
i
14
tZv ovroDv l(Tr)v ti rSv /jiti ovroov^ slrot rls i|
(fhKTiS ccvroZ-
7) Metaphysik 13, 1.
'^oKiTfreov tt^Stov fAh TTffl rSv fjLot,Bv\iJLOCtmZv
fxfioefjiiccv TT^osTtdivrots (pvcrtv oiXKvtv uvrols^ oJov Tfore^ov
lieoti rvyx(iyov(rt ovcrect tj ou, KCti irirs^ov dqxoCi k»)
ovtrteti rSv hvrm f\ ou, aAA* ds irtq) fjtccörifjiocrtKSv jjlcvov
err sla)v ehe fAV\ f*Vi, koc) ei elat, TfSs elslv. sTretrec
fAsri rctZret %a>q)s Tfe^] rZv iSeSv etvrocv otTtXSs
Kcc) otroP vofjiov xec^tv' reö^vAtjroct ydf rcc
TS oKhoi %ot) vTTo rSv i^(»reftKSv ^^oycov*
8) Eudemische Ethik 1, 8.
El de öe7 crvvroiJLoos elTtsiv Trgf) «Jt«v, Afyo/wfv, ort
tf^Stov iih ro etvoct lisecv fjiff fxovov dyctdov, ochÄcc k»)
aKKov orovovv Äsysroci hoytKooff koI x.evZs' s7re<TK€7rrcct
0€ TtoKKols Tgsq) otvrov r^oTtois x«! 1 v rols f^«-
re^iKols Koyots %»\ h rols Kurec (ptKo(ro<plccv.
Betrachten wir nun die äussere Form dieser
Stellen, so bemerken wir zuerst, dass zu dem Wort
s^oüTe^tKot überall das Wort /^oyos hinzugefügt ist,
nirgends steht h rols i^oore^iKols allein, und nirgends
ist statt Aoyo/i" ein anderes Wort gewählt wie avy-
y^oifjtfjLoco't oder iiuxiyois* Zweitens steht in allen
Stellen das Verbum im Präsens Ksysrot^^ heyecröott,
oto§i^of46Öo6f Sioct^ovfjteöocy TFtarevofjisv^ oder statt dessen
ein Perfectum mit Präsens-Bedeutung: rsB^vXf^rui^
fTreaneTTroct' Ferner steht vor dem fraglichen Aus-
druck in sieben Stellen das Wörtchen ku) in dem
Sinn von auch, in der achten in einer verwandten
Bedeutung. Diesem auch entspricht in den meisten
Stellen die Bemerkung, dass öfter oder für den
gegenwärtigen Zweck genügend in jenen i^arre^tKolg
hoyois von dem zu besprechenden Gegenstande die
15
Rede sei: <iqy,oivra>s inx, TroXKaKis, IkuvZs ttoKK»^
Tiößv^rcci rcc isoKKoi^ sTrhyteirroci tsoKKoIs r^oTrotf- Und
weil in dem Wort i^oore^iKis: theils angedeutet ist,
dass diese /^iyot andere sind, als die der Schrift,
worin sie erwähnt werden, theils dass sie minder
streng philosophisch sind, so ist meistens ein
Wort hinzugefügt, um ihre Anwendung zu recht*
fertigen und sie auch in der vorliegenden philo-
sophischen Untersuchung für brauchbar zu erklären :
X^f\irreov ocvrols — Trisre^ofAev {ocvrols) —
idiiov iis/ielV K») yu^ — koc] vvv XfVtrrhv
Koc) ^i» t£v e^atre^iKSv Koytüv — utsKSs kcc]
oaov vofAov %af;v- re^^vhtfrcci yoc^ — ffwrofjtoog
sIttsIv*
Wer nun die i]^a>rs^tKovs Koyovs allein aus dem
Aristoteles kennt, nichts von allem dem weiss, was
man aus diesem Ausdruck heraus erklärt hat, wohl
aber aus den angeführten Stellen ersieht, dass
unter diesen „äusserlichen Reden" solche verstanden
werden, welche der philosophischen Schrift, in der
sie erwähnt werden, als minder bedeutend entgegen-
gesetzt, jedoch zugleich als für sie brauchbar an-
geführt sind; wer femer aus dem d^Kovvroos htoc
(Nie. Eth. 1, IS), aus dem TrtcrrevofAsv (Nie. Eth. 6, 4)
aus dem ^ccLy iteKeiv, kcc) yd^ (Pol. 3, 6) aus dem
Tsd^vhffTcci nothwendig auf die Vorstellung geleitet
wird, dass diese Aoyo/ nicht des Aristoteles
sind, sondern solche Reden, an denen Nicht-Philo-
sophen theilnehmen, und zwar fortwährend theil-
nehmen im Gegensatz solcher AöVo/, die fertig in
Schriften niedergelegt sind (^i^r«/, Sioo^t^rcci Sc.);
der kann unmöglich anders denken, als dass jene
aft vorkommenden, auch für die philosophische
16
17
Erörterung brauchbaren Ansichten keine andere
sind, als die in äusserlichen Unterredungen, in der
gewöhnlichen Unterhaltung der Gebildeten ausser-
halb der Schule vorgebrachten. Ein solcher Leser
wird also der Erklärung von Zell zur Nikom.
Ethik 3, 6 beistimmen, mit der M advig zu Cic. de
finib. Exe. VII. und Tor strick zu Aristoteles de
anima S. 123 einverstanden sind, welche aber unter
anderen gegen diese von Bernays in seiner
neuesten Schrift „die Dialoge des Aristoteles 1863"
bekämpft wird. (Vgl. auch Thomas de Aristotelis
e^oDTs^iKol^ Koyois 1860.)
Bei der mit Gelehrsamkeit und grosser Aus-
führlichkeit von Bernays versuchten Widerlegung
dieser Erklärung wird es unabweislich , dieselbe
durch genauere Untersuchung jeder einzelnen Stelle
zu schützen. Dies soll im Folgenden geschehen.
Es wird zweckmässig sein, zunächst die vier Stellen
der Nikom. Ethik und der Politik durchzugehen,
theils weil diese beiden Schriften auch nach der
Ansicht des Aristoteles im Grunde Ein Werk bilden,
theils weil in allen vier Stellen, bei der grossen
Verschiedenheit der Fragen, welche als Gegenstände
der ll^Qors^mZy Xoym genannt werden, doch die
grösste Verwandtschaft der Fassung des Ausdrucks
obwaltet. Eine Hauptfrage wird bei allen an-
geführten Stellen die sein, ob jene Gegenstände der
l^ööTf^/xööv \oyoi)v mit Recht als Gegenstände der
ausserphilosophischenUnterhaltungjener
Zeit betrachtet werden können, und ob es mit der
Art der Aristotelischen Untersuchungen
vereinbar ist, dass der Philosoph sie als solche für
seine wissenschaftliche Lehre benutzte.
i
Um von dem Letzteren auszugehen, wollen
wir an die Methode, welche Aristoteles in seinen
Untersuchungen zu befolgen pflegt, erinnern, wiewol
es kaum nöthig sein sollte. Wir können uns dabei
gegen Bernays der eigenen Worte desselben bedienen.
Er schreibt S. 77. „Aristoteles beginnt keine For-
schung, ohne vorher die in Frage kommenden
Wörter nach ihren verschiedenen Bedeutungen zu
zu sondern und dadurch zugleich die Begriffe in
ihre Bestandtheile zu zerlegen." Diese verschiedenen
Bedeutungen der Wörter wo anders sind dieselben
zu suchen, und wo anders sucht er sie, als in der
gewöhnlichen Sprache und der gewöhnlichen Unter-
haltung der Menschen? Diese Wörter sind ja eben
nur der Ausdruck der Ansichten und Meinungen
Qo^oci) der Zeitgenossen. Und wenn auch Aristoteles
die Bedeutung der Wörter für seine Lehre feststellt,
und zuweilen ein neues Wort bildet 'oder ein wenig
gebrauchtes mit einer bestimmten Bedeutung ver-
sieht, so besteht doch sein Verfahren keineswegs
bloss darin das er definirt, die Begriffe in ihre
Bestandtheile auflöst, sondern hauptsächlich darin,
dass er von dem Bekannten, d. h. von dem welches
denen bekannt war, die er belehren und auf die er
wirken wollte, zu dem Unbekannten fortschritt. Und
was namentlich die Ethik und die Politik betrifft,
so war er ja weit davon entfernt, bloss eine philo-
sophische Schulweisheit, einen Theil des „Systems"
vortragen zu wollen. „Nicht, damit wir wissen,
sagt er, was die Tugend sei, stellen wir die Betrach-
tung an, sondern damit wir gut werden; sonst wäre
sie unnütz." Freilich gehörte seine Ethik und
Politik darum nicht minder in die Einheit des
ganzen Gedankens, in die Einheit der Wahrheit,
2
18
die er überall verfolgt und in Worte fasst. Aber
anknüpfen will er überall nicht bloss an den for-
malen Begriff des' Wortes in der gewöhnlichen
Sprache, sondern an den realen Inhalt der im Wort
ausgesprochenen Ansichten, welche in dem geistigen
Leben seiner Zeitgenossen und besonders Athen's
als ein Gemeingut, oder als den Lernbegierigen,
den Gebildeten bekannt galten.
L Nicomachische Ethik 1, 13. Die Seele.
Nachdem Aristoteles im ersten Buch der Ethik
davon ausgegangen, dass jedes Bestreben einen
Zweck habe, der das (wahre oder vermeintliche)
Gute sei, der höchste Zweck aber oder das höchste
Gute dasjenige sei, um dessen willen alle anderen
Zwecke seien, sucht er die Wissenschaft, welche
sich mit dem höchsten Zweck zu beschäftigen hat,
und den höchsten Zweck selbst, womit sich diese
Wissenschaft beschäftigt. Jene Wissenschaft ist die
Staatswissenschaft und das höchste mensch-
liche Gut, welches die Staatswissenschaft erstrebt,
ist die Giückseligkeit sowohl nach der An-
sicht der Menge als der Glücklichen. Die
Glückseligkeit wird dann bestimmt als die Thätig-
keit der Seele in üebereinstimmung mit der höch-
sten Tugend in einem vollständigen Leben. Sie
also ist das höchste Gut für jeden „politischen"
Menschen, für jeden Staatsbürger, also auch für
jeden Griechen. „Da aber die Glückseligkeit in der
Thätigkeit der Seele besteht, und da die Tugend,
welche dieser Thätigkeit zum Grunde liegen muss,
nicht eine Eigenschaft des Körpers, sondern der
Seele ist, so folgt, dass jeder Staatsbürger eine
gewisse Kenntniss der Seele haben muss,
\i*"'
i
I
19
nämlich eine solche, welche für den Zweck genügt.
Eine umfassendere und genauere Untersuchung über
die Seele würde für die gegenwärtige Betrachtung
zu weit führen; dagegen kommt auch in der
gewöhnlichen Unterhaltung in genügender
Weise Einiges über die Seele vor, und
davon ist (hier) Gebrauch zu machen, z. B.
dass etwas in ihr nicht-vernünftig, etwas aber ver-
nünftig ist. Ob dieses beides aber trennbare Theile
sind, wie die Theile des Körpers, oder ob sie von
Natur untrennbar sind, wie im Kreis das Convexe
und Concave, macht für die gegenwärtige Betrach-
tung keinen Unterschied." Es wird dann aus dieser
Unterscheidung die Lehre von den ethischen und
dianoötischen Tugenden — wir würden etwa sagen
von den Tugenden des Herzens und des Verstandes
— abgeleitet und bemerkt, dass man die lobens-
werthen Eigenschaften sowol des Herzens als
des Verstandes, sowol des yj^o^ als der itdvoioc
Tugenden nenne.
Ist nun jene Unterscheidung des Vernünftigen
und des Nicht - vernünftigen in der Seele etwas so
Ausserordentliches und nur der philosophischen
Schule Angehöriges, dass sie nicht auch oft in der
gewöhnlichen Unterhaltung, im gewöhnlichen Leben
gemacht werde? Konnte es doch nicht fehlen, dass
jeder Pädagog oft genug seinen jungen Zögling er-
mahnte, nicht der unvernünftigen Neigung seiner
Seele zu folgen, sondern seine Vernunft zu gebrau-
chen; konnte es doch nicht fehlen, dass man bei
dem bewegten politischen Leben jeden Augenblick
auf die Frage geführt wurde, ob der Aoyof oder das
«Aöyöv gesiegt habe; — ob bei diesem und jenem
das Herz, welches an sich keine Vernunft hat, dem
20
Kopf, d. i. der Vernunft folge , oder ihr widerstrebe.
Aristoteles stellt diese gewöhnliche Unterscheidung
überdies ausdrücklich der philosophischen Unter-
suchung, dem iTTl TPKfm l^ocK^ißovv, entgegen; und
in der Schrift über die Seele 3, 9, sind jene nvk
welche das hoyov g%ov und das »Aoyov unterscheiden,
weder nothwendig Philosophen, noch ist anzunehmen,
dass die ganze Unterscheidung die Erfindung eines
Philosophen sei, gesetzt auch es wäre dieselbe
Unterscheidung zu anderer Zeit und von Anderen
durch andere Wörter ausgedrückt. Wieweit die
Unterscheidung der Seelenkräfte hinaufreicht, wie
reich schon Homer an Bezeichnung der einzelnen
Seelenkräfte ist, darüber vergleiche man die treff-
liche Abhandlung „über die beiden Homerischen
Cardinaltugenden" von F. K. D. Jansen in dem Mel-
dorfer Programm von 1854. Am Schluss jener Ab-
handlung bemerkt der Verfasser: „Das populäre
Wissen von der Ethik ist aus dem Homer geboren und
fortdauernd genährt; die vier Cardin altugenden, die
dem ganzen Volksbewustsein der späteren Zeit ge-
läufig sind — liegen in der Homerischen Dyas
beschlossen. — Aristoteles mit seiner (?) Eintheilung
der Seele in das «Aovov und hoyov e%ov — besonders
aber mit seinem untrennbaren Tugendpaar, der
fj^/xj} und ituvofirtKri oc^erv steht ganz auf Homeri-
schem Grunde". Schreiber dieses hat schon in
der Schrift über Sokrates darauf hingewiesen, dass
in der Rede, welche Thrasybul nach der Einnahme
der Stadt in der Volksversammlung hielt, den
Oligarchen die Nichtigkeit ihrer Ansprüche auf die
vier Cardinaltugenden vorgehalten wird. Dergleichen
Begriffe gehörten so sehr in den Kreis der Bildung
der Athenischen Bürgerschaft, wie bei uns etwa die
H^
i
21
Forderung, dass der brave Mann „Herz und Kopf'
am rechten Fleck haben soll, und wer immer die
Unterscheidung zuerst mit den Worten ro ähoyov
und ro Aoycv f%ov aussprach, verständlich musste er
im gewöhnlichen Gespräch leicht jedem Griechen
sein. Wir erinnern auch noch an die Worte Dis~
sens in den Prolegomenen zum Pindar: „vides
virtutes cardinales vulgo dictas per omnia Pindari
carmina tractari, quae diu ante philosophos inde a
priscis temporibus in religionibus, in fabulis, in legi-
bus civitatum, in carminibus poetarum, in raoribus
et sensibus populi habebantur." Auch beim
Aristoteles werden, trotz der Aufzählung einer Menge
Tugenden im vierten Buch der Ethik, doch fast
immer, wo er beispielsweise Tugenden anführt, die
vier Cardinaltugenden uvi^loc, crooCp^ocrvvyi , SiKXiO(rvvfj
und <p^ovv\(ris genannt, von denen die ersten drei dem
v\äos d. i. dem ähoyov aber rov Koyov ocKovartnov ^ die
(p^ovf](ns dagegen dem Koyov €%ov der Seele angehört,
und zwar so, dass jede der ethischen Tugenden,
um wirkliche Tugend zu sein, mit der cp^ovridis^ der
dianoetischen Tugend, d. i. dem Koyos verbunden
sein muss, denn der Xoyos befielt (iTrtTocrrsi) wie das
flB'o^ {BvfjLos und eTnövfjLyjTiKov Plato) handeln soll.
Wir denken, es kann niemandem auffallend sein,
dass jene Eintheilung auch Gegenstand eines ge-
wöhnlichen Gesprächs der Gebildeten ausserhalb der
Schule war. Keinen Falls gehörte dieselbe zu den
ausschliesslich peripatetischen Ansichten, wie Bernays
(S. 36) will, und eben so wenig zu den Platonischen
oder sonst specifisch philosophischen Ansichten.
Schon Homer lässt den Zeus die etwanige Unfolg-
samkeit des Poseidon gegen seinen Rath und Befehl
als ein dXoyslv bezeichnen (II. 15, 163, 178).
23
2o
i
1
n. Nikom. Ethik 6, 4. Machen und Handeln. ^ |
„Von demjenigen, welches so und auch anders
sein kann, ist einiges machbar, anderes thubar
{Tromr^y — Tr^ccKTov). Das Machen und das Thun
(Handeln) ist verschieden. Wir stimmen
in dieser Beziehung auch den Gesprächen
ausser der Schule bei." Nach diesen Worten
folgt bei Aristoteles eine nähere Begriffsbestimmung
des Machens oder der Kunst und des Handelns
nach seiner eigenen Terminologie. Nur die Unter-
scheidung selbst zwischen Machen und Handeln
bestätigt er durch den Sprachgebrauch in der ge-
wöhnlichen Unterhaltung, welche, mochte sie auch
öfter Ttoislv in dem Sinn von Tr^drrsiv brauchen,
doch nicht umgekehrt 7F§eirretv in dem Sinn von
„machen" anwenden konnte. Schon in Plato's
Charmides (p. 163 f.) finden wir in einem Gespräch,
welches im Grunde ganz den Charakter eines \oyoff
iloors^iKos hat, die beiden Wörter unterschieden. Aber
auch schon Homer und alle Folgenden unterscheiden
im Gebrauch der beiden Wörter, so dass gewiss
nirgends z. B. Tr^drrsiv KXmyiv in dem Sinn von Ttoielv
KhKTlYjv gelesen wird, so wenig als im Deutschen „ein
Lager thun", statt „ein Lager machen". Diese Unter-
scheiduns: wird auch wohl allerseits als in der
Sprache begründet anerkannt, und weiteres, wie
gesagt, leitet Aristoteles aus den e^oorr^mol^ hoyots
nicht ab, als dass dieselben über die Unterschei-
dung hinlängliche Ueberzeugung geben. Der Aus-
druck des Aristoteles 7fi(rrevciJtev, auf seine eigenen
Schriften von ihm selbst angewandt, würde ganz
unpassend sein.
«
i"'«!«/ Vk
^
HL Politik 3, 6. Die Weise des Regierens.
„Auch die sogenannten Regierungsweisen sind
leicht zu unterscheiden; denn auch in den äusseren
Unterhaltungen machen wir oft einen Unterschied
rticksichtlich derselben." Wer in dieser Stelle den
Ausdruck t^ottc/ rllj^ d^xü^, die Weisen des Regierens,
für identisch hält mit e/^yj rvi^ d^X^s, den Arten
der Verfassung, wie Herr Bernays (S. 53), der ist
von vornherein auf irrigem Wege. — Aristoteles
behandelt in den drei Büchern 2, 3, 4 die el^Y\, d. i.
die Formen oder Arten der Verfassung. Das zweite
Buch berichtet über theoretisch aufgestellte (Plato,
Phaleas, Hippodamos) und factisch bestehende Ver-
fassungen (Lakedämon, Kreta, Karthago) und fügt
diesen am Schluss noch einige einzelne Bemerkungen
über andere Urheber von Verfassungen und Gesetzen
hinzu. Das 3. und 4. Buch enthalten des Philosophen
eigene Eintheilung und Beurtheilung der verschie-
denen Arten {el^v\) der Verfassungen. Zuerst be-
stimmt er den Begriff des Staats und des Staatsbürgers
und das Verhältniss des guten Staatsbürgers und
guten Mannes zu einander nach Maassgabe der ethi-
schen Tugenden und der Tugend des Verstandes (<p^oV
(T/f), so wie des dadurch bedingten Regierenden (aV%«v)
und des Regierten {ä^xifjLsvos). Nachdem er hervor-
gehoben, dass es Eine Verfassung gebe (nämlich
die d^l(Trr\ TtoKmloc des 7. und 8. Buchs), in der der
Regierende und der Regierte und zugleich der gute
Mann und der gute Bürger identisch sind, weil sie
im Besitz der vollen Tugend sind, und also als
Regierende im Besitz der Verstandestugend zu den
ethischen Handlungen der Regierten als solcher, und
dass die verschiedenen Arten der Verfassung in Be-
1
24
Ziehung stehen zu den nach Verhältniss der Tugend
verschiedene Arten des Bürgers {stin ttoA/tou), geht
er über zu der Frage, wie viele und welche Ver-
fassungen es überhaupt gebe. Die Antwort hängt
ab von dem Kv^tov oder der höchsten Staatsgewalt
im Staat. Diese aber bestimmt sich nach dem Zweck
der staatlichen Verbindung. Da nun der Mensch
von Natur ein gesellschaftliches Wesen ist, so streben
die Menschen zuerst darnach, zusammen, in Gesell-
schaft zu leben; demnächst auch dieses Zusammen-
leben angenehm und nützlich zu machen. Es fragt
sich also gleich, was für diesen gemeinschaftlichen
Zweck das gemeinschaftliche Nützliche (o-uft-
(Ps^ov) ist. Der Herr von Sclaven herrscht zu seinem
eigenen Nutzen, und nur accidentel (koctoc trvfx-
ßeßfiKoi;) zum Nutzen der beherrschten Sclaven, denn
der Untergang des Sclaven ist des Herrn Schade.
Beiden ist dasselbe nützlich. Der Familienvater sorgt
für das Heil der Familie und ihrer Glieder; weil er
aber auch selbst zur Familie gehört, sorgt er accidentel
auch für das eigene Heil. In beiden Fällen befasst
zwar der Nutzen des Regierenden (ä^xm) den Nutzen
der Regierten (cc^x^fjisvot) und umgekehrt. Aber in
dem ersten Fall regiert der Regierende als solcher
zu seinem Nutzen, in dem zweiten Fall dagegen
zum allgemeinen Besten. In der Voraussetzung
nun, dass im Staat der Regierte («^%oVm^), wenn
er Regierender («f%«*') '^ij'd, ebenso den Nutzen
des gegenwärtig Regierenden, wenn er Regierter
wird, im Auge behalten werde, wie dieser den Nutzen
jenes im Auge hatte, besteht in den Staaten, wo
Gleichheit der Bürger herrscht, ein Wechsel der
Herrschaft (d. i. der Bürger, welche die höchste
Gewalt, das Kv^tov^ vertreten). Allein es kann auch
>-
i i
i
ff
25
der, welcher im Besitz der höchsten Gewalt ist, diese
Gewalt zu seinem eigenen Nutzen missbrauchen.
Daraus ergiebt sich, dass in derselben Verfassung,
möge die höchste Gewalt bei dem ganzen Volk, oder
bei Wenigen, oder bei Einem sein, dio Regierungs-
weise, der TföTTof rris ol^xri^ den entgegengetsctzten
Charakter haben kann, je nachdem der Monarch,
oder die Wenigen oder die Mehrheit zum allge-
meinen Besten oder zum eigenen Vortheil
regieren.
Von dieser Weise des Regierens, oder wie
wir etwa sagen würden, von diesem Charakter der
Herrschaft spricht Aristoteles in unserer Stelle, und
bemerkt gewiss mit Recht: „es ist leicht, die
s. g. Weisen des Regierens zu unterschei-
den, denn auch in gewöhnlichen Gesprächen
machen wir öfter einen Unterschied rück-
sichtlich derselben". Oder sollte bei dem Wechsel
und dem regen politischen Leben in Griechenland
nicht tausendmal die Betrachtung darauf geleitet sein,
ob in diesem oder jenem Staat die Oligarchen oder
die Demokraten oder wer immer die Herrschaft inne
hatte, ob sie den eigenen Vortheil erstrebten
oder das allgemeine Beste? Wer daran zwei-
felt, der möge nur heute aufhorchen, in den s^oore^i
Kootocrots Koyois wird er dieser Unterscheidung täg-
lich begegnen.
Wir nehmen aber von jenem Irrthum der Iden-
tificirung der Begriffe el^os und r^oTtos Anlass durch
ein paar Beispiele an die Vorsicht zu erinnern, welche
das Verständniss des Aristotelischen Sprachgebrauchs
jedem Forscher auflegt. — Im 3ten Capitel des 2ten
Buchs der Physik zählt Aristoteles die d^x^^ ^^^^
alriu auf und führt sie sämmtlich zurück auf die
26
bekannten vier: des Stoffs, der Form, der Be-
weg u n g und des Z w e c k s. Am Schluss des Capitels
filgt er dann hinzu: „diese und so viele Ursachen
giebt es nach der Art. Die Weisen aber, wie
etwas Ursache ist, sind der Zahl nach viele, die
maü aber unter wenige zusammenfassen kann, und
auch bei den gleichartigen ist eine Weise vor
der andern". Aristoteles führt dann die Weisen
der vier, nach der Art verschiedene, Ursachen auf
zweimal sechs zurück. Joe /ufv ouv ulrtoc rocvrx kcci
fjih sm 7foKho\ KS<Pochottovfxevot is noci ovrot Iäocttov^-
Ein anderes Beispiel der Unterscheidung des
T^iTTos: und elios in anderer Anwendung ist folgendes,
über welches wir wegen der nicht gleich hervor-
tretenden Anordnung etwas ausführlicher sprechen
wollen. Es findet sich im 2ten Capitel des 4ten
Buchs der Politik verglichen mit den drei letzten
Capiteln desselben Buchs. Weil aber das 2te Capitel
sich auf den Anfang des Buchs bezieht, und dessen
Inhalt von den vier verschiedenen besten
Verfassungen einer deutlicheren Darlegung be-
darf, wollen wir aus dem Vortrag in der Casseler
Philologen-Versammlung (1843) Folgendes mit einigen
Zusätzen der auf jede bezüglichen Ausdrücke her-
setzen: „Der besten Verfassungen giebt es vier,
1) die absolut beste: r<V dqlarv]' rZ yu^ kuX-
hitrret 7St<pv%iri %oc\ %€%o^v\yv\iJLh(ß tyiv oc^l(Trfiv dvoc-
yKoclov ei^fJiorretV' — rriv (i^l(rrr\v d€oa^r\(Tcn rk eart, Koti
TFoSliovrOS TflöV SKTOff- Tljv K^OCri(Trif\V CtlthODS
riw oc^iarrjv 7ro?^trelocv ' ryjv ocK^oTocTfjv koc) isofAhfjv
TroKÄv^ Xo^fiyias. Vgl. B. 3, c. 15-18 und B. 7 u. 8.
\
1 x.\
27
2) die allgemein beste: rls rols TtKelarois
IX la 7rä(TtV' — tj}v ixocXiaroc tj-ocVoc/s- rocls TroXsatv ccq-
fjtorrovauv * — koivv\v rivct»
3) die relativ beste, d. i. die nach bestehenden
Verhältnissen beste: 7t ol» ttoicj) <rvfx(pk^ei' — rk
rmv d^fÄorrovacc' rviv Ik töJv vTTOKsiixhm ei^i<Tri^v
— TYfv iviexofxhfjv h Toov v7Foc^xovra>v — Tijv övvurriv»
4) die bedingt beste, d. i. unter Voraus-
setzung einer bestimmten Forderung: — luv ns fxY\
r?s- hvovixsvY}^ iTPtöviAV' — rrjv l| vTroösascßS, rtiv
Soösiaocv' — nvoc Cpocvyore^ocV'
Alle diese Ausdrücke finden sich in dem ersten
Capitel und ihre Beziehung auf je eine der vier besten
Verfassungen ist nicht zweifelhaft. Im Vorbeigehen
wollen wir hier nur bemerken, dass alle diese Ver-
fassungen, mit Ausnahme der absolut besten, zwar
an sich o^öocl sind, aber, wenn die Regierenden zu
ihrem eigenen Vortheil regieren durch solchen t^otto^
rSi" oc^x^s zu TTot^sKßoicrei^ werden können. — Mit
Beziehung also auf jene Verschiedenheit der besten
Verfassungen giebt Aristoteles nun im zweiten Ca-
pitel den Inhalt des Buchs in folgender Weise an.
1) rifxiv TS^Zrov fxsv iiut^ersov Tfocoa iiot<po^obi rSv
TToKirsiSv (1—10), ems^ hnv e/iv} TtXslovoc rv\s rs
Srjfxoa^ocrlocff koc) rvf^ iXtyoc^xl^^ (^' ^—^^ ~ ^^^
$1 rts äKKv\ TervX^KSv d^ KTroü^ocriKVf koc) (Tvvsaraxru
kuKZs (c. 7). — Dazu c. 8, 9: tts^) rr\s vofxl^ofxhrit;
TroXiTeloi^' {rl huCps^ovaiv ocXhviXoov ou r u^KrroK^ocrlccf,
KiX.) CCl TTohiTsToCt TV\S d^KTTOK^CCrloCS, KCC) CTl oC 7t C ^ ^ 09
ecvrott dKKYWm, <puvsqiv c.8a.E.); ferner c. 10: 7t6q)
2) rk Kotvordryj koc) rk etiler Mrurtj fxerd rvjv
d^lcrmv TToA/TF/etv, — )c«v ei SiS äKKr\ etc. cf. ad h
28
— dhÄec rctis tsXs'kttuis cc^fjtorrovo'ec 7toKs<ri
rls eartv. c. 11. die allgemeine beste Verfassung.
An in. Ueber die bedingt beste (Tj-fos* vTtodftriv^ —
(Pe^etv itsfctv fjLuKXov eivcct TtoXirsluv c. 1 1 a. E.) lassen
sich keine Regeln aufstellen.
3) €7retTec kcc) rZv »KKm ris ri(n ui^en^. c. 12.
die relativ beste Verfassung.
Anm. Von der absolut besten Verfassung, t^ber
die er im 7ten und 8ten Buch handelt, will er hier
noch nicht sprechen. Es kann möglicher Weise eine
absolut beste Basileiades Einen und eine abso-
lut beste Aristokratia der Wenigen geben: über
diesehat er B. 3 c. 15— 18. gesprochen, wie er selbst
anführt 4, 2 i. A. ßovXsroti hurefec Kctr ec^sTviv
(Tvve(TTeivoci Ksxo^ffyvH^evffv» Höher als diese steht
die absolut beste Politeia, in der alle Staats-
bürger an der Regierung Theil haben. Auf diese
konnte er sich hier nicht beziehen, weil das 7te
Buch eben nicht das vierte ist.
4) fjtercc ^s ro6vToc^ rlvcc t^ottov ie7 KetBt<rrecvect
rov ßovKofjievov rccvrccs reis TtoKneiocs^ Kiyai oi ötjfÄOK^ot'
rlas TB käÄ* skccttov elios k») ttocKiv oXtyu^%tocff (c.
13 aoCplo'fjiocToc oXiycc^xnccc k. ofifjtoK^ocriKoc) c. 14, 15, 16.
Weit entfernt also, dass r^ijfos und sl^os gleich-
bedeutend sind, bezieht er den r^iTTos hier auf die
Weise der Einrichtung des beabsichtigten siios (wie
oben Pol. 3, 6. auf die Weise der Ausführung der Ver-
fassung). Diese r^iiroi Averden in den letzten 3 Capiteln
des 4. Buchs rücksichtlich der Einrichtung {kuÖkttuvui^
KUTeiare6(ns) der drei Gewalten, toiv fxo^loov rm TtoKi-
thZv clTratrSv, nämlich der berathenden (ro ßov
hivifjLsvov) , der verwaltenden (to iV%ov) und der
29
richjter liehen (to StKoc^ov) dargestellt und zwar in
ihrer Verschiedenheit nach den verschiedenen e^/ivi der
Verfassung, der Demokratie, der Oligarchie und der
aus diesen gemischten Aristokratie.
Ueber die t^ottoi der Einrichtung der Politeia
sowohl der mehr demokratischen, als der mehr ari-
stokratischen vgl. B. 4, c. 9.
Um zu unserer Stelle der Politik 3, 6 zurück-
zukehren: es giebt hauptsächlich zwei Weisen des
Regierens, r^iirot rris dex^g* Darnach sind die Ver-
fassungen rechte oqöoci, wenn die höchste Gewalt,
das jcuf/ov im Staat das allgemeine Beste, ro
KOiv^ <rvfjL(ps^ov^ erstrebt; dagegen fehlerhafte,
YifJtoc^TYjfÄevoci (Plato) oder 7r«ffx/3«(rf/s", wenn die höchste
Gewalt zum eigenen Vortheil, tt^os ro titov (rvfx-
(Pe^ov, der kv^$oi verwandt wird. Es kann dies in
jeder Art von Verfassung eintreten. Nach der
Art, slioff, aber giebt es drei Verfassungen, je nach
dem Einer, oder wenige oder die Mehrheit im
Besitz des kv^iov oder der d^x^ des Staats sind.
Diese drei e^Stj finden sich nun sowohl in den i^öxi^
als den vjfjioc^rfifjihxi^ TfoKirelocts nach der Verschieden-
heit des r^oTtos rv\s cc^X^i^- ^^ ^^^ i\jxoc^rif\ixhocts wird
die Basileia zur Tyrannis, die Aristokratie zur Oli-
garchie, und die Politie zur Demokratie (Ochlokratie).
Jede der so entstandenen sechs si^t] hat wieder ihre
Unterarten, gleichfalls el^v] genannt, welche Aristoteles
im 4. Buch durchgeht.
Wie nun deutet Herr Bernays jene Weisen des
Regierens, deren Unterschied Aristoteles mit der
gewöhnlichen Ansicht in das Regieren z um eigenen
Vortheil oder zum allgemeinen Besten
setzt? Aus den Titeln von vier verlorenen
Schriften leitet er eine im Grunde ganz andere
so
Unterscheidung ab (S. 56), indem er den Aristoteles
dein Alexander den Rath geben lässt, den Barbaren
in Asien eine despotisch zwingende Behand-
lung angedeihen zu lassen, dagegen den Hellenen
eine freiheitliche Leitung. Die Ermahnung an
Alexander ist ebenso sehr eine blosse Phantasie
des Herrn Bernays, als die Deutung des r^o'nos falsch.
Rücksichtlich der e^iv^ möge noch darauf auf-
merksam gemacht werden, dass es nicht zufällig
ist, dass in diesen Büchern 2. und 3. das Wort »JW
unzählige Mal gelesen wird. Unter Beziehung auf
die Abhandlungen von B endixen im Philologus
Bd. XHI u. XIV. und von dem Verfasser dieses in
den Verhandlungen der Philologen Versammlung
in Cassel 1843 und im Philologus XV. dürfen
wir wohl die Frage wegen der Ordnung der Bücher
der Politik als zu Gunsten sämmtlicher Handschriften
und der Ausgaben (mit Ausnahme der jüngsten
Bekkerschen) als erledigt ansehen. Wir kommen
indessen im nächsten Abschnitt darauf zurück.
Wir beharren auch bei dem, was wir in der Philo-
logenversammlung dargethan, dass das erste Buch
der Politik das vTtoKelfxevov des Staats, das 2te,
3te und 4te Buch das sliosy das 5te und 6te Buch
die fAiraßoKn oder xi'vn<ri^ und das 7te und 8te
Buch das riXos des Staats, die TroKtrelec reXeia d. i.
die d^l(mi »ti^kZs betrachtet. Auch die Gegenbe-
merkungen des Herrn Hildenbrand (Geschichte
und System der Rechtsphilosophie S. 390), der sich
in würdigerer Weise, als Herr Sprengel darüber
ausspricht, sind weit entfernt, uns zu einer an-
dern Ansicht zu bewegen. Aristoteles macht die
vier Ursachen, deren Erkenntniss die Bedingung
aller Erkenntniss ist (was Herr Spengel freiUch
}'
i ^
31
zu leugnen scheint) zum Eintheilungsgrunde seiner
Betrachtungen über den Staat. Die vier Ursachen
des Staats sind das vTi oKslfjLsvov^ oder die fxe^v\
roZ oKov die einzelnen Bürger mit ihrer Familie^
ihrem Haus; das flJoi- die Formen, Arten der
Staaten, die Verfassung; die d^xi\ ^i\f\<rsoos oder
fjüTotßiohvis und ri^6fxri<reooi^, die Ursachen und Wcl«en
^vie eine Verfassung in die andere übergeht, wie
der Staat in seiner Verfassung zu erhalten ist;
endlich das r^Aof , das höchste Ziel des Staats oder
der vollkommene Staat, und wie und durch welche
Mittel dieses Ziel erreicht, der vollkommene Staat
verwirklicht wird. Alle diese Ursachen werden
natürlich immer als Ursachen des Staats, als des
Resultats aller vier Ursachen betrachtet,
von dem sie nicht zu trennen sind, daher überall
gelegentlich auf die andern Ursachen Rücksicht ge-
nommen ist, während gleichwohl die sich ent-
sprechenden Stichwörter jener Eintheilung in den
verschiedenen Büchern leicht gefunden werden. Wir
gestehen, es fehlt uns durchaus das Verständniss
wie ein Kenner des Aristoteles sich einer Ansicht
verschliessen kann, der eingeräumt wird, dass sie
sich schon „auf den ersten Blick als acht aristo-
telisch empfiehlt," und die eben darauf beruht,
dass, wie gleichfalls eingeräumt wird, „die aristo-
telische Politik ohne Kenntniss der Be-
deutung, welche die vierUrsachen in der
Philosophie des Aristoteles haben, nicht
verstanden werden kann." Wenn der be-
rühmte Urheber der Lehre von den vier Ursachen
wiederholt die Kenntniss derselben als die Bedin-
gung aller Erkenntniss aufstellt, und nun, um zur
Erkenntniss des Staats zu gelangen und sie andern
f
32
nntzutheilen, diese vier Ursachen in allen Beziehungen
des Staats aufsucht, heisst das die Politik in eine
„Schablone" einzwängen? Oder liegt vielmehr der
Grund der Bewunderung „des freien manchmal zu
freien Gangs seiner Untersuchungen" doch vielleicht
darin , daes der Gang dieser Untersuchungen doch
nocli ' nicht ganz verstanden war? Was Herr
Hildenbrand gegen unsere Ansicht bemerkt — so
will uns bedünken — möchte wohl hauptsachlich
dem Aristoteles selbst den Vorwurf machen, dass
er nicht genug nach der von Herrn Hildenbrand
ihm zugemutheten „Schablone" gearbeitet hätte. —
Die Sprache des Aristoteles und die einzelnen Sätze
sind meistens leicht verständlich; allein die Aristo-
telischen Begriffe sind oft schwer zu bestimmen, und
noch schwerer ist es, diesem grossen Mann in die
geistige Werkstatt hineinzublicken und der Bewegung
seines Gedankens ohne Abirren zu folgen. Jeden
Falls ist die von „dem manchmal zu freien Gang
seiner Untersuchungen" entnommene Beruhigung
gefährlich. Im Uebrigen sei dem Verfasser jenes
ausgezeichneten Buchs für die ernste Besprechung
unserer Ansicht unser Dank gesagt.
Wenn Aristoteles gleich im 7ten Capitel des
3ten Buchs sagt : kocKsIv S' sloiöcc i^ev rSv fih ixovoc^'
%/av TJ7V TT^cs- ro KOtvov oCTroßKeTTovcTUV (TvfA(pi^ov ßcctri-
hslocvy TYjv Jf rSv ohlym fxlv Trhetovoov S' ivk d^iaroK^ocrlocv
IC, r- A. so meint er mit jenem sloiöocfjisv nichts
anderes, als in unserer Stelle mit iio^t^ofxsdecy ob-
gleich er später (4, 2) ausdrücklich hervorhebt,
dass die Begründung der Rangordnung, in
welche er die sechs Verfassungen stellt, von ihm^
selbst herrühre. "AvdyKfi — nfv fjisv rris Tf^oirfjs m)
ditotcirvi^ 7i;»^hßwTiv itvcct %f/f/(rr»iV rr,v Ss ßoctnÄeiccv
33
ccvccyKoclov ^ rovvofxoc jmovov exeiv ovk ovaccv, ijlotoc TroWtjv
\}7Seqo%Y\v eivoct Tfjv rov ßocaiKsvovtos^ axrre r>)v rvfocvvlooc
%ei^i(rrv\v oZaotv TsKslrrtov imk'Xjeiv TtoKirsloLs^ öevre^ov de
Tfjv oKiyuqxlocv (y\ ycc^ ci^to'roK^ocrloc othryjKsv octto rotvrtjs
TToAu ryjs 7toKireloi.s\ fjier^tooTocrYiv S^ rrfv örjfxoK^xrlocV'
ii^Yf fÄSV oxjv riff o67rs<f)rivxro koc) roov Tr^orefwv
ovroos (nämlich Plato im Politicus p. 299 ff.) ov
ixrjv eis rocvro ßXe'^ocff YffAlV' k- r. A.
- IV. Politik 7, 1.
Das beste Leben und die Güter.
Die vierte Stelle, worin die I^outs^iko) hoyot er-
wähnt werden, findet sich in dem Anfang des w^ich-
tigsten Theils der Politik des Aristoteles, den der-
selbe im 7. und 8. Buch abhandelt. Den wichtigsten
Theil nennen wir ihn deshalb, weil er das Ziel
betrifft, wohin die ganze Ethik und die vorher-
gehenden Lehren und Betrachtungen über die staat-
lichen Dinge hinstreben. Wie Aristoteles das Beste
von jedem dessen Ziel (rsKos) nennt, in welchem
sich alle Elemente und Ursachen seines Werdens
vereinigen, so musste er nothwendig diese beiden
wunderbar schönen Schriften mit dem Ziel aller
Ethik und Politik abschliessen, mit der Schilderung
des besten Staats und den Mitteln ihn herzustellen.
Die vier ersten Capitel des siebenten Buchs enthalten
den tiefen Gedanken, welcher von der Ethik in die
Lehre vom besten Staat hinüberführt. — Wir werden
hier ein wenig ausführlicher reden, denn wir stehen
den bedeutendsten, zum Theil uns befreundeten Ge-
lehrten gegenüber, vor denen wir gewiss alle Hoch-
achtung hegen, und denen gegenüber wir gleichwohl
um der Wahrheit willen offen es sagen müssen : sie
haben das ethisch - politische Werk des Aristoteles
3
34
in seinen tiefsten Beziehungen nicht vollständig ge-
würdigt. Wer dies gethan, der, glauben wir, kann
unmöglich meinen, die Politik des Aristoteles da-
durch zu verbessern, dass er mit Barthelemy St.
Hilaire, Spengel, Bekker, Brandis, Zeller, Hilden-
brand, Bernays die Lehre vom besten Staat, von
dem Ziel aller Ethik, welches zugleich das Ziel aller
Menschen sein soll, in die Mitte der Schrift nach
dem dritten Buch einschiebt. So wenig das 8te und
9te Buch der Ethik als eine besondere Schrift
über die Freundschaft aufgefasst werden darf (wie
Herr Bernays thut S. 52, dem überdies die vorgeb-
lichen „vielen Seltsamkeiten" des zwölften Capitels
des achten Buchs der Ethik den Abschnitt über die
Freundschaft zu einem „ungelösten Räthsel (!) innerhalb
der politischen Lehre des Aristoteles" machen) oder so
wenig das 7. Buch der Ethik als nicht nothwendig zur
Ethik gehörig betrachtet werden darf, so wenig darf
die Ordnung der Bücher der Politik geändert werden.
Aristoteles hatte in der Ethik gelehrt, die Glück-
seligkeit des Menschen bestehe in der Thätigkeit
des Geistes in Uebereinstimmung mit der höchsten
Tugend in einem vollständigen Leben ; die Tugend
sei nur dann wahre Tugend, wenn sie zugleich
auf Wollen und Denken beruhe, wenn dasselbe der
Verstand befiehlt und die Begierde erstrebt, wenn
die ethische Tugend des Muths, der Mässigung und
der Gerechtigkeit so handeln will und wirklich so
handelt, wie die dianoötische Tugend der Weisheit
vorschreibt. Dass der Mensch dieser Tugend fähig
ist, verdankt er zuerst seiner Natur, die ihm die
Gottheit verliehen, dann der Gewöhnung, d. i, der
Erziehung zur Sittlichkeit, und endlich der Lehre,
dem Unterricht, der Ausbildung seines Verstandes
/
.^0
35
und Wissens. Diese drei ((pijW, viöo^, Koyos) muss
er in vollkommener Harmonie zusammen stimmen
lassen. — Wo das l^dos bloss der (piais folgt, und
der Kiyos keinen Theil am Handeln hat, ist im Guten
keine Tugend, im Schlechten aber Lasterhaftigkeit,
welche sich der Thierheit nähert (Nik. Ethik Buch 7).
Die Tugend, welche nicht in einer latenten
Fähigkeit, sondern in einer auf fest gewordener
Eigenschaft beruhenden Thätigkeit besteht, kann
nur in dem thätigen (praktischen) Leben geübt
werden, zu dem der Mensch nur in GeseUschaft
mit andern Menschen gelangen kann Ohne Bezie-
hung zu andern Menschen würde von ethischen
Tugenden keine Rede sein. Der Mensch aber ist
von Natur ein Gesellschattswesen , ein staatliches
Wesen; er muss im Verein, in Gemeinschaft mit
andern leben, wenn er sein Ziel erreichen soll. Das
Band dieser Gemeinschaft bezeichnet Aristoteles durch
die „Freundschaft" im weitesten Sinne. Die
Freundschaft ist es, welche durch das Angenehme,
durch das Nützliche, im Höchsten durch das an
sich Gute die Menschen verbindet und die staat-
liche Gesellschaft zusammen hält. Es kann daher,
wie keine Glückseligkeit ohne Tugend, so keine Tu-
gend ohne Freundschaft und ohne den auf Freund-
schaft beruhenden Staat bestehen.
Freilich bedarf der einzelne Mensch wie der
Staat sowol der äusseren Güter, als der Güter des
Körpers und der Güter des Geistes, um sein
Ziel zu erreichen, aber unter diesen dreien nehmen
unbedingt die letzteren den höchsten Rang ehi. Wie
die Glückseligkeit auf Tugend beruht, und der Mensch
nur im Staat und in seiner Eigenschaft als staat-
liches Wesen jenes sein Ziel erreichen kann, so beruht
3»
36
die Glückseligkeit der Gesammtheit, und jedes Ver-
eins und jeder Gemeinschaft, sowol der staatlichen
als jeder kleineren auf denselben Bedingungen.
Im Menschen wird die Vielheit des Begehrens und
des Wollens (der ethischen Tugenden) durch die
Vernunft (die diano^tische Tugend) zur Einheit ver-
bunden. Eben so ist es in jedem kleineren und
grösseren Verein, der irgend ein Ziel hat, welches
worin immer dasselbe bestehen mag, nur durch die
Thätigkeit des Geistes erreicht werden kann. Auch
in jedem Verein muss daher neben den
handelnden Elementen der ethischen Tu-
genden (neben dem rov Koyov »KovanKov)
ein befehlendes Element der dianoötischen
Tugend (ein hoyKmKov^ ßovXsvofjievov) sich
finden. Jenes ist, wie in der Seele des
Einzelnen, so in jedem Verein und vor
allem im Staat das dfxofjtsvov^ dieses das
ä^XoV' In dem Verein von Mann und Frau, von
Vater und Kindern muss daher in allen Beziehungen,
wo der Mann und Vater als Herr und Gebieter des
Hauses aufzutreten hat, die Frau, der Sohn auf die
(pfovjjo-if verzichten, weil der Mann und Vater im
Besitz der dianoetischen Tugend ist, für die ethische
Tugend der Frau und des Sohnes. Jener befiehlt
(sTFiTccrret) als «f%(wv, während diese ausführen als
d^XofjLivoh Im Heer vertritt der Feldherr die (p^ovrjats
zur dvi^lcc der Bmeger, und so durch alle Vereine
hindurch, denen die Sprache daher auch ein „Haupt"
einen „Chef*, einen „Capitain" zu geben pflegt, be-
nannt nach dem Sitz der (p^ivTjat^^ im Gegensatz zu
dem „Corpus", dem „Corps", der „Corporation".
Wie nun in jedem solchen Verein, so muss vor
allem in dem grössten Verein, der alle andern in
// »
87
sich befasst, im Staat, der ä^x^^v m allem,^ worin er
^p-v^v ist, im Besitz der befehlenden (p^ivyjfrt^ sem
zu den ethischen Handlungen der Regierten, ä^%o-
fjievoi, welche ihrer Seits in Beziehung auf alle Staats-
handlungen, in denen sie nur a^xoVvo/ sin^, auf
die befehlende (p^ivfjcrs^ und folglich auf die Uebung
der vollen Tugend verzichten, deren in jedem em-
zelnen Fall, nur das «^%ov oder ßovKevifxevov des
Staats fähig und theilhaft ist. Das oä^^ov verftigt
über die Tapferkeit des Kriegers, über die Gerech-
tigkeit des Richters: beide Tugenden bleiben latent,
sind nicht Ivsa^loc, sondern nur iwccfxet vorhanden,
wenn nicht das äV%ov und ßovAsvofxsvov des Staats
beräth und verfügt, wie und wo der ot^xoV^vof jene
ethischen Tugenden üben soll ; während dieser natür-
lich in allen Fällen, wo er nicht ein d^x^f^^vos ist,
selber im Besitz der cp^ivficn^ zu seinem ?^os' bleibt.
Es erstreckt sich also die Sphäre, worin der cl^x<^v
Tugend üben kann, viel weiter, als die^, worin der
ti^xif^fvos, welcher in seiner ivs^ysioc \J>u%»i5- v.otr oc^erriv
und also auch in seiner Glückseligkeit viel beschränk-
ter bleibt. Nur als cl^x^v im Staat kann er die einige
Tugend des ^^o^ und der isuvo^ct auf ihrer hoch-
sten Stufe üben.
Es ergiebt sich also, dass der beste Staat
derjenige sein muss, in welchem alle oder mög-
liehst viele die vollständige Tugend üben
und dadurch die vollständige Glückseligkeit eriangen
können. Und da nicht alle gleichzeitig cl^xo^rss
sein können, so müssen sie es im Wechsel sein.
Es ist nun eben im siebenten Buch, wo Aristo-
teles die Untersuchung über den besten Staat an-
fängt. Er ineint den absolut besten Staat.
Denn über den bedingt besten, den allgemein
38
besten, den relativ besten hat er, wie wir ge-
sehen, schon im vierten Buch geredet, und darauf
bezieht sich, was er Buch 7, 4. im Anf. sagt: tts^]
reis äKXcts TtoKirelots rffxiv Teöeoi^sroct K^orsqov. Zuerst
nun fragt er, welches Leben das wünschenswertheste
sei, und ob dieses dasselbe sei fttr den Einzelnen
und die Gesammtheit oder nicht? Er antwortet:
„indem wir der Meinung sind, dass auch
von dem, was in gewöhnlicher Unterhal-
tung vorkommt (k«J rZv ev rols il^oDrsqmols
Koyoi^)f vieles hinreichend über das beste
Leben gesagt wird, haben wir davon Ge-
brauch zu machen. Denn wahrlich in Beziehung
auf Eine Unterscheidung ist niemand in Zweifel,
dass nämlich die drei Arten der Gilter, die äus-
seren, die des Körpers und die der Seele
sämmtlich den Glückseligen zukommen müssen. Wer
von den Gütern der Seele gar nichts, auch nicht
einmal in einem geringeren Grade besitzt, wer sich
vor einer vorbeisuumienden Fliege fürchtet, aus Be-
gierde nach Speise und Trank nach jedem greift,
um eines Hellers willen seinen besten Freund verdirbt,
und nicht mehr Verstand hat, als ein Kind oder ein
Wahnsinniger, den freilich hält niemand für glück-
selig. Allein die Menschen (wenn sie auch die Güter
der Seele för die Glückseligen fordern) halten oft
ein sehr geringes Maass von Muth, Mässigung, Ge-
rechtigkeit und Weisheit für hinreichend, dagegen
streben sie die äusseren Güter bis in's Unendliche
zu vermehren. Wir aber sagen ihnen, sie können
sich darüber leicht durch die Erfahrung eines
Besseren belehren, da sie sehen, dass sie nicht die
Tugenden dnrcli die äusseren Güter erlangen und
bewahren, sondern diese durch jene; und dass die
39
Glückseligkeit im Leben, mag sie nun in der Freude
oder in der Tugend oder in beiden bestehen, viel-
nu-hr denen zu Theil wird, welche durch Sittlichkeit
und Weisheit bis zum üeberschwänglichen ausge-
zeichnet sind , und an äussern Gütern ein geringes
Maass besitzen, als denen, welche von letzteren mehr
haben, als nutzbar ist, von den ersteren aber weniger.
Aber (ausser der Erfahrung) lehrt die begriffsmässige
Betrachtung dasselbe. Denn die äusseren Güter haben,
wie jedes Werkzeug, ihre Grenze, worüber hinaus
sie nothwendig schaden, oder wenigstens nichts
nützen. Die Güter der Seele aber, je überschwäng-
licher sie sind, desto nützlicher sind sie, wenn von
diesen -besagt werden darf, nicht nur dass sie edel,
sondenr auch dass sie nützlich sind. Und wenn die
Seele sowol überhaupt als auch jedem Einzelnen
höher zu schätzen ist als der Körper und die äusseren
Güter, so steht auch der beste Zustand eines jeden
der drei in demselben Verhältniss".
Dass nun einem jeden in dem Maasse Glück-
8eli<rkeit zukommt, in welchem Tugend und Weisheit
und^ diesen entsprechendes Handeln, das sei uns
ausgemacht , indem wir Gott zum Zeugen nehmen
der glückselig und selig ist nicht durch irgend
welche äussern Güter, sondern durch sich selbst
und sein eigenes Wesen. - Es folgt aueh mit
Nothwendigkeit, dass das Glück ein ande res ist,
als die GUukseligkeit, denn die äusseren Güter
sind abhängig von dem Zufall und dem Glück ge-
recht aber oder massig ist niemand durch Zufall
oder Glück. — Wie nun das Leben der Tugend-
haften das glü.kselige Leben ist , so sind aus dem-
selben Grunde der beste Staat und der glückselige
identisch. Denn es ist unmöglich, dass der Staat
40
im guten Zustande sei, wenn er nicht gut handelt.
Keine Handlung weder des einzelnen Mannes noch
des Staats kann gut sein ohne Tugend des Handelns
und Denkens. Die Tapferkeit, die Mässigung, die
Gerechtigkeit und die Weisheit des Staats haben
dieselbe Bedeutung und in der Ausübung dieselbe
Form, deren theilhaft der Einzelne tapfer, massig,
gerecht und weise genannt wird. So viel sei über
die Frage, welches das beste Leben, „b e v or wo rt e t ".
Alle zur Sache gehörigen Betrachtungen anzustellen,
ist Aufgabe einer andern Untersuchung. Für jetzt
stehe fest, dass das beste Leben sowol für
den Einzelnen als gemeinschaftlich dem
Staat dasjenige sei, welches in Verbindung
mit der Tugend, soweit mit Mitteln aus-
gestattet ist, als erforderlich zur Ausübunt^
der Tugend".
Das also ist die Antwort auf die erste Frage:
zum besten Leben, welches lilr den Einzelnen und
den Staat auf der Tugend beruht, sind die äusseren
Mittel nothwendig, soweit sie eine Bedingung der
Ausübung der Tugend sind. — Es fragt sich aber
ferner, ob auch die Glückseligkeit des Einzelnen und
des Staats dieselbe ist. Abgesehen von denen,
welche die Glückseligkeit in die äusseren Güter, in
Reichthum setzen, giebt es andere, welche eine ein-
zelne Tugend, die Tapferkeit, welche Macht über
Andere verleiht, zur Bedingung der Glückseligkeit
machen. Beide stellen dieselbe Bedingung für
die Glückseligkeit des Einzelnen und des Staats. Es
wäre aber auch möglich, dass die Tugend, worauf
die Glückseligkeit des Einzelnen beruht, eine andere
sei, als die, worauf die Glückseligkeit des Staats,
jene auf der dianoeitischen Tugend der Weisheit^
I
I
diese auf der praktischen Gesammttugend. Es fragt
sich also, ob das glückselige Leben des Einzelnen
in dem praktischen Leben des Staatsbürgers oder
in dem theoretischen Leben des Weisen bestehe,
und dem analog, ob es allen wünschenswerth sei,
am Staat sich zu betheiligen, und zwar den meisten,
einigen aber nicht Die Antwort lautet (nicht ohne
Rücksicht auf Ethik 10, 7 u. 8): sofern die Glück-
seligkeit in der Thätigkeit, im Handeln nach der
ganzen Tugend besteht, ist nothwendig das prak-
tische (d. i. das politische) Leben für jeden Einzelnen
und fi\r den Staat das beste. Die üebung der
ethischen Tugenden ist überhaupt nur möglich in dem
praktischen Staatsleben, und ist dem Menschen als
Menschen naturgemäss (oIvÖ^mti^os (pv(rs$ ^Zov ttoA/t/xov).
Die Gottheit allein ist über die ethischen Tugenden er-
haben und lebt ein rein geistiges Leben. Der Mensch,
der Weise, soweit er eines solchen Lebens fähig
ist, geniesst auch, verglichen mit dem praktischen
Staatsbürger, einer reineren Glückseligkeit, — allein
ganz fähig ist er dessen nicht, weil er eben Mensch
und nicht Gott ist ([5^^») üi — l(p Icrov hi^xeroci
d&uvocrl^eiv koc) ttocvtoc Trotelv Kecrd tc K^dncrrov rZv ev
«Jrf Nik.Eth. 10, 7.). Es ist aber nicht nothwen-
dig* dass jeder „Praktiker" in Beziehung stehe zu
Anderen, und dass nur diejenige Geistesthätigkcit
„praktisch" sei, welche ein unmittelbares Ergebniss
des Handelns bezielt, und nicht auch und vielmehr
diejenige, welche durch den Gedanken auch
selbst für äussere Handlungen die Stellung des ober-
sten Baumeisters einnimmt. Auch Staaten können
für sich leben, ohne nach aussen zu handeln und
können in ihren Theilen und deren in gegenseitigem
Verhältniss stehenden Vereinen thätig sein, wie das
J
• 42
auch ähnlich in jeden einzelnen Menschen der Fall
ist. In völliger Müsse (^x^A?) lebt der Gott und
da. Weltall, denen nicht auf Aeusseres gerichtete
Handlungen obliegen, sondern nur die ihnen eigenen
innerhalb ihres Wesens. Für den einzelnen Men-
schen und gemeinschaftlich für den Staat und die
Menschen ist das beste Leben dasselbe und dieses
Leben ist das praktische".
Aus dieser ganzen Eutwickelung ergicbt sich
zugleich, was Aristoteles anderswo (z. B. 7, 14. 3, 4.
3 ""iT) bestimmt fordert, dass die Tugend des
.THten Mannes und des guten Bürgers die-
selbe sei. Nur dadurch ist der beste Staat möglich,
denn nur der in dein oft erwähnten Sinn wahrhait
gute, tugendhafte Mann hat zugleich die Eigenschaft
des «cxajv und des d^xoiAtvos.
Nachdem er also dargethan, dass das beste Leben
für den Einzelnen und den Staat dasselbe sei, und dass
dieses für beide beste Leben nicht Reichthum oder
Macht oder Anderes, sondern die auf derselben
Tugend beruhende Glückseligkeit sei, wiederholt er,
dass er dieses als „Vorwort" (7, 4.) seiner nun
folgenden Lehre vom besten Staat vorausgeschickt
habe, um unter der Voraussetzung, dass die äus-
seren, jedoch möglichen Mittel nach Wunsch vor-
handen seien, zu zeigen, wie der beste Staat
werde.
Uebcr die wünschenswerthen äusseren Mittel,
welche natürlich in einem ähnlichen Verhältniss /.u
der auf der Erziehung beruhenden geistigen Bildung
der Staatsbürger stehen, wie die äusseren Güter zu
denen der Seele, spricht er Cap. 5 — 12. Im drei-
zehnten Capitel geht er über zu seiner Aufgabe, d. h.
zur Bestimmung des riAos selbst, und zur
t
I
t
fc^
43
Betriichtuiig der Mittel, welche zu diesem
Ziel, dem besten Staat führen, und dieser
Aufgabe hat er in dem 7ten und 8ten Buch voll-
ständig uenügt. Eine Fortsetzung der Paideia für
den Bürger findet sich in der Poetik und der an
dieselbe sich anschliessenden Rhetorik, vor allem
aber in der Ethik. Die Einrichtung der Aemter
u. s. w. ergiebt sich vollständig aus der ganzen Po-
litik, und bedurfte keiner wiederholten Behandlung.
Dass die Frage, nach dem besten Staat unter
den Griechen lange vor Aristoteles eine vielbe-
sprochene war, bedarf wohl keines Beweises, selbst
für diejenigen nicht, welche in ihrer Vorstellung
dieBevölkerungGriechenlands und namentlich Athens,
unter der Aristoteles lebte, bis auf und selbst bis
unter die Bildung des grösseren Theils der Be-
völkerung unserer Staaten hinabzudrücken geneigt
sind. Herr Bernays -stellt Berlin und Paris Athen
gegenüber und redet von gewöhnlichem Salons -
I)ublicum. Allein das gewöhnliche Salonspublicum
in Athen waren die Bürger von Athen und Attika,
ihre Salons waren die Stoön und die Agora. Unter
ilnien befanden sich sehr viele, die durch eine
glückliche Choregie der äusseren Mittel, unbe-
hindert durch banause Geschäfte oder durch
theures Leben, gehoben durch eine allgemeine
wissenschaftliche, künstlerische und politische Bildung
ihres Zeitalters, wovon sich das unsrige keine Vor-
stellung macht, geschweige denn sie erreicht, sich
(wie wir aus den Dialogen des Plato selbst, aus den
Symposien, aus unzähligen Zeugnissen ersehen),
niit i-anz anderen und würdigeren Gegenständen in
ihren Unterhaltungen beschäftigten, als unser heutiges
"•cbenedeites Salonspublicum, welches höchstens das
44
„Interessante" des laufenden Tages bespricht, aber
blasirt gegen alles Höhere jede Unterhaltung über
ernstere Gegenstände von allgemeinerem Charakter
vermeidet, aus Furcht sich in der „Gesellschaft" zu
„compromittiren." Das Salonspublicum hält es frei-
Lh wohl heute hi grossen und kleinen Städten für
ungebildet, ein ernstes Gespräch über Gott und
Welt zu führen, über Religion, über die Seele und
dass ihre Güter höher gelten sollten als der Gewinn
aus Fabriken und Börsenspiel, über Tugend und
tugendhaftes Leben und dass darin das beste
Leben zu setzen, über den höchsten Zweck des
Staats, und wie er zu erreichen, und wie zu be-
wirken, dass der brave Mann und der gute
Bürger derselbe seien, und dass die Regie-
renden nicht von dem „guten Bürger" verlangen,
was der „brave Mann" nimmer verantworten könnte.
Alles dies und Aehnliches vermeidet das Salons-
publicum, nicht weil es Gegenstände der Schulweis-
heit sind, sondern weil zur Besprechung derselben
nicht nur ein gebildetes, sondern auch ein natürliches,
unblasirtes, unemancipirtes Publicum gehört, welches
nicht geistreich zu sein meint, wenn es aus jedem
Ernst einen Scherz macht, nicht witzig, wenn es
über den Abwesenden herfällt, nicht um ein Lachen
zu erregen selbst den Freund preisgiebt, und nicht
seiner Herzensgüte genügt, wenn es im Mitleid mit
grossem Unglück durch kleine Spende die Forde-
derung sämmtlicher Cardinaltugenden und einiger
anderer erliillt zu haben meint.
Wie scharf der Gegensatz von damals und jetzt
ist, das zeigt sich deutlich in dem oben angeführten
Ausspruch des Philosophen „nicht damit wir wissen,
.tf3*
45
was die Tugend sei, stellen wir diese (ethische)
Betrachtung an, sondern damit wir gut werden; sonst
wäre sie unnütz." Welcher Philosoph schreibt heute
eine Ethik, damit die Menschen gut werden? l^s
ist uns in der Gegenwart lebenden die Naivität des
Daseins abhanden gekommen. Wir stellen uns über-
all ausser der Sache, haben überall die Kritik zur
Hand - und wie gerne wir uns davon frei machten,
wir können es nicht - ja wir glauben unsere
creisticre Freiheit zu verlieren, wenn wir nicht neben
dem Gegenstand unserer geistigen Beschäftigung
unser geistiges Ich im gesonderten Bewustsein be-
wahren und meinen nur zu leicht, dann recht im
Besitz der Freiheit und Ueberlegenheit des Geistes
zu sein, wenn wir das Andere herabbringen. Wir
werden nur dann natürlich und wahrhaft froh und
frei wenn wir uns einmal selbst vergessen. Gleich-
wohl bleibt es wahr; es ist viel leichter, ausser der
Sache zu bleiben, als darin zu sein. Das aber ist
nicht der letzte Reiz des Griechischen Alterthums,
die Wahrhaftigkeit in dem ganzen Geschlecht.
Was sie liebten und was sie hassten, was ihnen Ernst
war und was ihnen Spiel, sie waren ganz dann.
Und so auch in ihren staatlichen Beziehungen. Die
Bevölkerung eines Staats, welche in ihrer Gesammt-
heit gebildet genug war, dass sie Jahrhunderte hin-
durch die Aemter jährlich aufs Neue durchs Loos
vertheilen konnte, sollen wir die eintheilen, wie Herr
Bernays etwa die Gebildeten unserer Staaten, m eme
Anzahl Philosophen und in ein „Salonspubhcum"?
Sollen wir annehmen, wer nicht bei den Philosophen
in die Schule ging, der habe nicht zu unterscheiden
gewusst zwischen den Gütern der Seele, des Körpers
und den äusseren Gütern?
46
Um aticr «Heh im Einzelnen nachzuweisen, dass
iene Eintheilung der OfUer keinesweges eine „eigent-
lich ..der "ar ausscblio-sslich" (»eripatetische war,
wollen wir" uns zuerst auf den Aristoteles selbst
berufen. In der Ethik 1,8 sagt er: „nicht nur aus
der Schlussfolgerung und aus dem Begriff, sondern
auch aus dem, was darüber gesprochen wird,
ist die Betrachtung über die Glttckseligke.t abzu-
leiten.*) Denn mit der Wahrheit stimmt alles
Wirkliche überein, dem Unwahren widerspricht als-
bild die Wahrheit. Indem nun die Güter dreifach
eincretheilt werden, und einige äussere genannt
werden, andere dem Körper, andere der Seele
.ehöri- nennen wir die der Seele die höchsten und
vorzüglichsten. Die Handlungen und Seelenthät.g-
keiten legen wir der Seele bei, so dass also richtig
„osprochen ist nach dieser Ansicht, welche
alt ist und von den Philosophen ge-
billigt."**)
In der Ethik 7, 14 heisst es, nachdem bemerkt
worden, dass alle das glückselige Leben für ange-
nehm halten, - „daher bedarf der Glückselige der
Güter 'des Körpers und der äusseren
Güter, damit (die Thätigkeit der Seele und die
vollkommene Glückseligkeit) unbehindert se..«
oLel »nnr x«a «^^«. Man bemerke, da«« «he Vergle-
chung der Stelle der Politik über die.clbe Lmthodung
daraufführt, das obige äU,\ x«J U räy UYOfify»y »»W
„iint gradezu zu erganzen durch ty toU «««e."rf A»r<»f-
••) wffT« xnicöf Sy i/ye»« «otk ye rair^y ti,V rföS«»- »«-
iK,,iy oiaay xc« i(i»Uy,„i.(y>,y ini täy ^aooofoiytm:
»
47
Endlich fordert, ganz in Uebereinstimmung mit
unserer Stelle in der Politik, die Ethik 10, 9 aueh
für die Glückseligkeit des Weisen (der ein theo-
retisches Leben lebt), sowohl die Güter des Korpers
als auch äussere Güter, da es nicht möglich sei,
ohne diese glückselig zu sein, wenn auch em ge-
ringes Maass genüge, wie auch Solon ein be-
scheidenes Maass der äussern Güter für die Gluck-
seligen verlangt habe.*)
^Jene alte Eintheilung der Güter, die also schon
Solon anerkannt hatte, war auch von andern Phio-
«nnhen gebilligt. Wahrscheinlich hatte Aristoteles
derermfhrl'nennen können. Ohne Zweifel dachte
er aber auch an Piaton. In den Gesetzen 3^
p 697 b. zählt dieser dieselben drei Gattnngen
der Güter auf, womit die achte Epistel p. 355 b
übereinstinunf, und in der Apologie p. 30 a. b. spricht
Sokrates zu den Athenern: „auf nichts anderes bm
ich bedacht bei meinem Umhergehen, als die Jüngeren
und die Aeltercn unter Euch zu überreden , weder
für den Körper noch für Vermögen (x?*IH«r«v)
früher noch so sehr Sorge zu tragen, als für die
Seele, dass sie möglichst gut werde, indem ch
lehre, dass nicht aus Vermögen Tugend entstehe
sondern aus Tugend Vermögen und die übrigen
Güter insgesammt den Menschen zu The.l werden,
n.,« 4-vJ x„i r,o,nrx.i .^. .o.„V*.,«»-«
::;,L. (z« ^..» -rgi. poi. 1. 1. »* «^ .»ox......
48
söwol eigene ak staatliche." Man sieht, wie nahe
sich Aristoteles in unserer Stelle an diese Worte
des Sokrates anschliesst.
Dass, wie es scheint, Aristoteles, dem die Aus-
drücke xfif^ÄT«, euV/«, TtKoZros für alle Güter ausser
denen des Körpers und der Seele nicht genügten,
vielleicht zuerst den Ausdruck r» hros gebrauchte,
ändert natürlich an dem Alter der Eintheilung nichts.
Er bezeichnet die äusseren Güter, deren der Glück-
selige in geringem Maasse bedürfe, in der Ethik
10, d, durch ri\v r^o^i\v xa* njv ihMv ös^ctTtslotv^
öfter durch die „Choregie," fjisrfta)^ rois hro^ xfxo-
^Tifjthovs. Die Eintheilung der Güter selbst findet
der Verfasser der Schrift de vita et poäsi Homeri
(Plut. ed. Hütten Vol. XIV. § 141) schon in der
llias. Es wird nun wohl nicht nöthig sein, auf die
künstliche Ausführung des Herrn Bernays näher
einzugehen, der mit ausserordentlicher Beredsamkeit
sich bemüht zu rechtfertigen, was nicht ist, nämlich
„die graciöse Demuth(!), mit der Aristoteles hier
um Erlaubniss(!) ersucht, doch wenigstens(!) eine
Eintheilung anbringen (!) zu dürfen." — Wir gehen
zum Folgenden.
V. Eudem. Ethik 9, 1. Die Güter.
Diese Stelle findet durch das über Polit. 7, 1
Gesagte ihre vollständige Erledigung.
VI. Physik 4, 10. Die Zeit.
Im vierten Buch der Physik handelt Aristoteles
vom Raum, von dem Leeren und von der Zeit und
der Bewegung. Nach seiner bekannten Methode
geht er aus von dem uns Bekannten zu dem Unbe-
kannteren. In der Untersuchung über den Raum
49
beruft er sich im Isten Capitel drei Mal darauf,
dass alle annehmen, alles sei im Raum und der
Raum sei etwas, ein Seiendes; es frage sich aber,
was er sei. Ebenso verfährt er rücksichtlich des
leeren Raums. Es frage sich, ob er ist oder nicht,
und wenn er ist, wie und was er ist. Bei der ersten
Frage sei zu berücksichtigen (cap. 6) was die
Menschen (ol ävö^arTrot) unter dem Leeren ver-
stehen. Anaxagoras sei darüber im Irrthum, indem
er beweise, dass die Luft etwas sei. D i e M e n s c h e n
aber verständen unter dem Leeren einen Raum, in
welchem gar kein erkennbarer Körper sei. Im An-
fang des 7. Cap. fügt er noch hinzu, man müsse
zur Entscheidung über die Frage, ob der leere
Raum sei oder nicht, wissen, was das Wort (das
Leere) bedeute. Es werde aber angenommen (SoKsi)
das Leere sei ein Raum, worin nichts ist.
Es ist nun schon an sich wahrscheinlich, dass
Aristoteles eben so von einer allgemeinen Ansicht
ausgehen werde bei der Untersuchung über die
Zeit. Und so thut er auch. Zuerst sei es zweck-
mässig, die Schwierigkeiten auch vermittelst der
ausserphilosophischen Ansichten durchzugehen, ob
die Zeit zu den Seienden oder zu den Nicht-Seienden
gehöre ; dann zu untersuchen, was sie sei. (tt^Stov
x«X(Sf sx^i iM7fo^(roci Tre^) otCroZ koc) Sm T(2v l^ajre^tKm
Koy^v 'nirsqov rZv ivrm lariv y\ rZy fxYi ovtööv, fTra rli'
fl (pJcr/f ccvro^. Die nicht- philosophische Ansicht
sagte: die Zeit ist entweder gewesen oder sie ist
noch nicht; das jetzt, ist nur die Grenze zwischen
Vergangenheit und Zukunft, aus denen die Zeit be-
steht, da aber die Vergangenheit eben so wenig
ist als die Zukunft, und diese beide Nicht-Seiendes
sind, so ist es unmögücb, dass die Zeit ein Seiendes
50
sei. Auch ist das Jetzt, welches Nichts ist, weder
stets ein anderes Seiendes, noch ist es ein Dauerndes.
Auch in diesen Ansichten ist doch wohl nichts so
Ausserordentliches, dass sie nicht auch ausser der
Schule Gegenstand des Gesprächs gewesen wären.
Indessen ist das Meiste auch in der ersten Hälfte
dieses Capitels das itecTro^trcci des Aristoteles selbst.
Die Aporie selbst besteht darin, dass die Zeit zu-
gleich ein Seiendes und ein Nicht-Seiendes zu sein
scheint. Die exoterischen Ansichten leugneten das
Sein der Zeit, da sie stets entweder gewesen ist
oder noch nicht ist, das Jetzt aber nie bleibend ist.
Vermittelst dieser exoterischen Ansicht und gleich-
sam durch sie hindurch löst Aristoteles vor-
läufig die Aporie in dem Sinn, dass die Zeit ent-
weder überhaupt nicht zu den Seienden gehöre, oder
kaum und undeutlich. Dann geht er über zu der
Frage, was sie ist, und kommt schliesslich zu dem
Resultat: sie ist das Maass der Bewegung.
VII. Metaphysik 13, 1. Die Ideen.
In Beziehung auf diese Stelle (deren Echtheit
ja übrigens auch bezweifelt wird), welche die Lehre
von den Ideen betrifft, und welche dem Verfasser
der Endemischen Ethik (1, 8) vorgeschwebt hat,
möchte es wohl rathsam sein, zuerst einmal die
Ausdrucksweise des Aristoteles näher Anzusehen:
hretra ixercc recvrcc %<wf)i' ^ffJ roov mm avrm tiitKZs
nm oaov vofxov xei^tv* rsB^vXfirect y«f rcc Tfoh^^M
Kcti V7F0 r£y i^torefiKSv Aey<wv. <
Das Wort aTsKois erklärt Bernays wohl mit
Recht durch „im Allgemeinen" nach Polit. 8, 7 wo
dasselbe dem aa(f>i^B^ov entgegengesetzt wird. Eine
Bestätigung dieser Erklärung giebt das xrwrifji«)^
l
51
in der Eudem. Eth. 1, 8 und besonders der Schluss
des 5. Cap. im 13. Buch der Metaphysik «M« ■ns?)
,jih rZv l^tZv V.CU Twrev TW TfoVov mu ii» XoyiKoire^m
M.) »)cf;/3f<7ri?<»v hiycov hr, 'XoXXa, uxivuyMyüv oixoi»
rois Tsösa^tifthoit. - , • u
Der Ausdruck vi/xav %»f<v dagegen möchte sich
wohl nicht so ohne Weiteres durch „dicis causa"
wiedergeben lassen. Der Mensch thut oft etwas,
nicht aus freiem Willen, sondern weU er muss „des
Gesetzes wegen." Eine Berufung auf das Gesetz
bei einer Handlung hat leicht die Bedeutung, dass
die Handlung ungern geschieht, da bei einer gerne
vollbrachten gesetzlichen Handlung die Berufung auf
das Gesetz den Werth der Handlung herabsetzt.
Aber angewandt auf eine Handlung, die gar nicht
von einem Gesetz gefordert wird, enthält der Aus-
druck „des Gesetzes wegen" eine absichtliche Ueber-
treibung, oder einen absichtlich angeführten falschen
Grund zu dem in Wahrheit ungern Gethanen.
Einem solchen absichtlich und mit Bewustsein ange-
führten falschen Grund mischt sich dann leicht eine
Ironie bei. So sagt der schlaue Koch in des Diphi-
los Zographos bei Athenäus 7 p. 292., er bediene
keinesweges jeden, der ein Gastmahl geben wolle,
sondern prüfe erst, wer er sei, woher er sein Mahl
bestreite, und welche Gäste er einlade; er habe eine
Charakteristik aller Gattungen von Gastgebern, denen
er sich vermiethen oder vor denen er sich hüten
solle: „zum Beispiel die Gattung der Schiffspatrone;
da ist Einer, der giebt einen Opferschmaus, nachdem
er grosse Havarie erlitten; den lass ich laufen; ein
solcher thut nichts gerne, sondern nur wie des Ge-
setzes wegen : oviiv 0a>s Ttoiei V»? ovros , (»A^' oaov
yiljuv x«f<v". — In eü»em ähnlichen, entschieden
52
ironischen Sinn scheint der Epigrammatiker Lukillios
(Brunck Analekt. 2. p. 335) den Ausdruck yifxov
X»ftv (ohne oaov) zu gebrauchen:
ähXoc Ksyei MfVfxXn^, äXKoc ro xotflStov-
Vergl. Antholog. Lukianos Epigr. XIV. und Lukillios
Epigr. XXV.
Nach diesen Beispielen scheint in unserer Stelle
Aristoteles sagen zu wollen: ich werde über die
Ideen ungern e sprechen, es soll daher kurz ge-
schehen und wie um dem Gesetze zu genügen.
Denn breitgetreten ist das Meiste über diesen
Gegenstand selbst von (!) den Gesprächen ausser
der Schule". — Dies nämlich ist die Bedeutung von
redfvKfirar- „breitgetreten", nicht aber „durchge-
sprochen". Ursprünglich bezeichnet sowol d^ZXo^
als ö^vhS ein undeutliches Gemurmel, verwandt mit
dem Onomatopoietikon r^oDy und drückt sowol das
Unartikulirte , Unbestimmte, als die Wiederholung
aus. In der Batrachomyomachie 134 heisst es:
TToBev ^ arciais fj rU o ^fuAo^; Hesychius erklärt es
durch y\/i^v^t(rfÄO(ry und Suidas durch ifjit\ia fxfi (pavs^Zs
yivofjihfj* Aristoph. Ritter 348 rfjv vvKrec ö^vXSv kx)
hothSv €v rcüs iiois asuvrZ* Wegen der mit solchem
Gemurmel verbundenen Unklarheit wird das Verbum
auf mythische, fabelhafte Erzählungen angewandt;
wegen der mit dem Gemurmel verbundenen Wieder-
holung tritt dagegen dieser letztere Begriff öfter
besonders hervor. Isokrates Panathenaikos § 237
%m\ r» fAvBoiin Tre^t «üTni" (rti^ TfoXeoos) i^sis^ » Ttcivris
B^vXovatv. Plut. Selon 4 in Beziehung auf den
angeblich von einem Weisen zum andern gesandten
Dreifuss: rccZr« vtto 'nKetivmv T9^fvKiireci- In
wegwerfendem Ton sagt Demosthenes vom Midias
9
53
(§ 160) 'AAA« vij A/«, r^m^ eTtiLKsv' rocvtriv yd^ olf
ort d^ votiere h Es ist aber einleuchtend, dass nicht
leicht jemand von sich selbst und seinen eigenen
Schriften oder Reden dieses Wort gebrauchen wird.
Nur einmal scheint es so vorzukommen, und zwar beim
Demosthenes. In der Rede über die trügerischcGesandt-
Schaft § 156 spricht er über und gegen seine Mitgesand-
ten wie folgt : „Während Philipp im Frieden und wider
die Verträge sich aUes aneignete und ordnete, sprach
ich viel und wiederholte es unablässig (ttoXXcc
Xiyovrc^ IfxoZ k«) d^vKoZvros ccei) anfangs um meine
Meinung auszusprechen, dann um jene Unkundigen
zu belehren, schliesslich diesen bestochenen und ver-
ruchten Menschen gegenüber unablässig drängend".
Es ist klar, dass Demosthenes hier von sich selber
ein minder edles Wort gebrauchte, um seine unwil-
lige Verzweiflung auszudrücken, die ihn dazu trieb,
unablässig zu wiederholen, welche Gefahren
die Zögerung der Gesandtschaft über Athen brachte.
Wer wird aber glauben, dass Aristoteles dieses Wort
auf seine eigenen Schriften hätte anwenden wollen?
Und hätte er es gewollt, dann hätte er wahrlich es
nicht in Beziehung auf „exoterische Schriften", auf
seine „Dialoge" gebrauchen dürfen, sondern grade
in Beziehung auf die wissenschaftlichen Schriften, die
uns erhalten sind, denn in diesen, in den logischen,
in den ethischen, in den physischen und vor allem
in der Metaphysik bekämpft er ja eben unablässig
die Ideenlehre; und Proklos in der von Bernays
S. 152 citirten Stelle hätte füglich das reB^v>^r]Tctt rct
TToXXd auf den Aristoteles anwenden können; Ari-
stoteles aber nimmermehr auf sich selbst. Vielmehr
ist nach Allem wohl klar, dass Aristoteles die von
ihm bekämpfte Ideenlehre, die ohne Zweifel in den
54
55
gebildeten Kreisen Athens viel besprochen wurde,
und schwerlich hier die Euthyne bestand, auch durch
dieses Te^fuA»fT»< u5re t£v i^cor- xiyxv in einer
Weise gegen namenlose Nachtreter verwerfen wollte,
die er gegen den Plato und zu dessen Lebzeiten
nicht wtlrde angemessen gefunden haben.
VIII. Eudem. Eth. 1, 8. Die Ideen.
Der Verfasser dieser Stelle sagt, wenn er kurz
von den Ideen sprechen solle, so behaupte er, es sei
die Lehre von dem Sein der Ideen eine leere; es
sei aber auf vielfache Weise sowol in ausser-
philosophischen als in philosophischen Untersuchun-
gen von ihnen die Rede. Die Ausdrücke kivZs,
■noKKois T ^0710 IS i'nsaxeytTeu , neben den t^certPiKois
Ae'yotf finden sich in den betreflFenden Stellen der
Metaphysik 13, 1, 4 und 5. Doch scheint auch das
4te Capitel des Isten Buchs der Nikom. Ethik auf
diese Stelle der Endemischen wesentlichen Einfluss
gehabt zu haben. Im Allgemeinen hat sie keinen
weiteren Werth in Beziehung auf die Bedeutung der
Exoterika, da der Gegensatz <,,' x«t« (ptXotroCplxv Xiyoi
sowohl för exoterische Schriften als für exote-
rische Gespräche geltend gemacht werden kann.
Wenn man indessen folgende Stelle der Politik
3, 12. vergleicht: iom h 7[»<t,v Srw rt ri ikcciov,
Koc) fÄix?'Vf rms oiMXeytZiTi ro~is Kar» <PiXeiro<pluv
Xoyon, so wird man wohl um so entschiedener
der Ansicht sein, dass die exoterischen Reden in
demselben Sinn den Ao'ywf x»t« <P/Ae(re<p;»v entgegen
gesetzt sind, wie hier jene alle (,r«<r,v imei).
IX. Cicero.
Wenn auch die Nachricht, dass die Peripate-
tiker der ersten Jahrhunderte die Schriften des
Aristoteles nicht besessen und daher nicht gekannt
hatten, nach den Nachweisungen Stahrs wohl
sicher der Wahrheit entbehrt, so ist doch so viel
klar, dass schon durch Theophrast die Ethik jene
Kraft und Strenge" verior, welche der Aristoteli-
schen eigen ist (Vgl. Zeller S. 685). Ja, wir
möchten sehr bezweifeln, dass Theophrast jene Kraft
und Strenge überhaupt begriffen habe. Sein Be-
mühen den Werth der äusseren Güter, im Gegen-
satz der gemässigten Anerkennung ihrer Nothwen-
digkeit bei Aristoteles, als eine wesentliche Bedin-
gung der Glückseligkeit besonders hervorzuheben,
spricht nicht dafür. Wenn nun die Neigung des
Theophrast zum theoretischen Leben die äusseren
Güter hob und dagegen die Bedeutung der ethischen
(praktischen) Tugenden zu Gunsten der dianoetischen
Tugend des vom politischen Leben Zurückgezogenen
abschwächte, so wich in entgegengesetzter Weise
Dikäarch von der Lehre des Aristoteles ab, indem
er ohne Glauben an die Unsterblichkeit der Seele
die Glückseligkeit scheint ausschliesslich m das
praktische Leben gesetzt zu haben.
Fast drei Jahrhunderte waren seit dem lode
des Aristoteles vergangen, als die Philosophie des
Aristoteles in ihrer allmäligen Verflachung durch
die Dilettanten-Rednerei des Cicero in die Römische
Literatur eingeführt wurde. Madvigs Ansicht ist
gewiss die richtige, dass Cicero seine Bekanntschaft
mit der Aristotelischen Philosophie nur aus der ab-
geleiteten Quelle der Vortrage des Antiochus und
50
anderer Griechischer Philosophen geschöpft. Sagt
er doch selber in der zwei Jahre vor seinem Tode
verfassten Schrift de finibus b., dass er in die Biblio-
thek des Lucullus gegangen, um gewisse Aristotelische
Schriften, die er also in seiner reichen Bibliothek nicht
besass, zu entlehnen, da er grade Müsse habe, sie zu
lesen, was selten der Fall sei. Und in demselben Jahr
gab er ausser jenen fünf Büchern folgende Schriften
heraus: den Orator, die Consolatio, den Hortensius,
die Akademischen Quästionen, die laudatio Portiae,
die Rede pro rege Deiotaro. Im nächsten Jahr
folgten diesen die Philippiken I— IV. Die Tuskula-
nischen Disputationen, de natura Deorum, Cato major,
Laelius, de gloria, Topica, de officiis, de virtutibus.
Bis zum 22. April hielt er die Philippiken V— XIV.
Den 7. Dec. wurde er ermordet.
Woher sollte er nun wohl die Zeit gewonnen
haben zu gleichzeitigen gründlicheren Studien
in den Schriften des Aristoteles neben denen des
Plato, Theophrast und anderer? Selbst jene Angabe,
dass er Schriften des Aristoteles in der Bibliothek
des Lucullus suchte, gehört offenbar nur zu dem
„mos dialogorum," dessen er in dem Brief an
den Varro bei Uebersendung der Academ. quaest.
gedenkt: puto fore, ut, quum legeris, mirere id nos
locutos esse inter nos, quod numquam locuti sumus;
sed nosti morem dialogorum."
So darf man wohl mit einem gerechten Zweifel
an die Stellen in seinen Schriften gehen, in denen
er von „exoterischen Schriften" des Aristoteles und
von seiner Nachahmung des Aristoteles in deren
Abfassung spricht.
Die der Zeit nach früheste Stelle, die wir zu
betrachten haben, findet sich in einem Brief an den
W^
< ^
i
57
Lentulus (ad fam. 1, 9, § 23) aus dem Jahr der
Stadt 700. — Scripsi Aristotelio more, quem-
admodum quidem volui, tres libros in disputa-
tione et dialogo de Oratore, quos arbitror Lentulo tuo
fore non inutiles. Abhorrent enim a communibus
praeceptis atque omnem antiquorum et Aristoteliam
et Isocratiam rationem oratoriam complectuntur.
Bezieht sich diese Aristotelische Weise auf „in dis-
putatione et dialogo, oder auf das Folgende abhorrent
enim a communibus praeceptis atque omnem anti-
quorum et Aristoteliam et Isocratiam rationem ora-
toriam complectuntur? Letzteres anzunehmen würde
uns die Verbindung von Aristoteles und Isocrates
beim Cicero wohl kaum verhindern, und die Ein-
leitungsworte zu dem Dialog des Cicero de Universo
könnten dafür sprechen. Sie lauten: Multo sunt
nobis et in Academicis conscripta contra Physicos
et saepe cum P. Nigidio Carneadeo more et modo
disputata. Hier scheint sich der Ausdruck more
nicht auf die Form, sondern auf den Inhalt zu be-
ziehen. Oder war der iftos Carneadeus dem Plato-
nischen ähnlich? Carneades disputirte wie Socrates.
Dass Cicero unter Aristotelius mos einen Vor-
trag ohne wiederholte Unterbrechung
durch den Dialog versteht, im Gegensatz der
Platonischen und anderer Dialoge, ergiebt sich aus
dem Brief an den Atticus 13, 19. (a. u. 709).
Sunt etiam de Oratore nostri tres (libri) mihi
vehementer probati, in eis quoque eae personae
sunt, ut mihi tacendum fuerit. Crassus enim loqui-
tur, Antonius, Catulus senex, C. Julius frater Catuli,
Cotta, Sulpicius. Puero me hie sermo inducitur, ut
nuUae esse possent partes meae. Quae autem bis
temporibus scripsi, 'A^ta-rorsXetov morem habent, in
58
59
quo sermo ita induoitur ceterorum, ut penes ipsum sit
principatus. Ita confeci quinque libros ^r^fJ WAöüv.
Es scheint, als habe Cicero sich in diesen
scheinbar sich widersprechenden Briefen nur unge-
schickt ausgedrückt. Der mos Aristotelius besteht
ihm darin, dass Einer in ausführlicher Rede ohne
dialogische Unterbrechungen einen Vortrag hält.
In der Schrift de Oratore redet Crassus bis c. 46
dann bis zum Schluss des Isten Buchs Antonius.
Im zweiten Buch reden Antonius und Cäsar; im
dritten wieder Crassus.
Es ist eben so in der Schrift de finibus nur
mit dem rücksichtlich der Form gleichgültigen Unter-
schiede, dass Cicero hier selber einer und der haupt-
sächlichste Redner ist. Man würde aus diesen
beiden Stellen nicht geschlossen haben, dass Cicero
auch in den kurzen Einleitungen eine Nach-
ahmung des mos Aristotelius finde, wenn nicht in
einer andern Stelle eines Briefes an den Atticus
(4, 16) eine Andeutung wäre, dass auch Aristoteles
in den Büchern, die er e^oorgftKovs nenne, sich der
Proömien bedient habe. Cicero bemerkt nämlich,
er könne in den Büchern de republica den Varro
nicht als theilnehmend am Gespräch aufführen, doch
werde er auf den Rath des Atticus versuchen, ihn
irgendwo zu nennen. Itaque cogitabam, quoniam
in singulis libris utor prooemiis, ut ' K^tarorkXns
in iis, quos f|a)Tff/xoüV vocat, aliquid efficere, ut non
sine causa ist um appellarem.
Wir wollen diesem gleich eine vierte hieher
gehörige Stelle aus Cicero de finibus 5, 5 hinzu-
i\lgen: de aammo autem bono, quia duo genera
librorum sunt, unum populariter scriptum quod
i^oorg^iMv appellabant, alterum limatius, quod in
commentariis reliquerunt, non semper idem dicere
videntur (Aristoteles et Theophrastus). Fassen wir
nun den Inhalt aller vier Stellen zusammen, so
scheint sich Folgendes als die Meinung des Cicero
au ergeben.
Aristoteles schrieb ausser den von ihm hinter-
lassenen systematischen Schriften (commentarii)
auch s. g. exoterische in populärer Form. Diese
hatten Proömien (ad Atticum 4, 16) Nach diesem Vor-
bilde bediente sich auch Cicero der Proömien vor den
einzelnen Büchern seiner philosophischen Schriften.
Diese Ciceronischen Proömien sind nicht die ein-
leitenden kurzen Gespräche der redenden Personei),
sondern die voraufgehenden einleitenden Betrach-
tungen des Cicero selber. Ausserdem befolgt
er auch noch einen „mos Aristotelius," welcher
darin bestand, dass nicht in stetem Wechsel des
Gesprächs, wie beim Plato, sondern durch Einen
Redenden, der eine bestimmte Philosophie vertrat,
die Lehre in ununterbrochenem Zusammen-
hang vorgetragen wurde, mochte dies nun (wie in
der Schrift de Oratore (ad famil. 1, 9, 23) durch
einen Anderen, oder wie in der Schrift de finibus
(ad Att. 13, 19, 4) in der Hauptsache durch den
Verfasser selbst geschehen (ut penes ipsum sit prin-
cipatus).
Der „mos Aristotelius" beim Cicero hat im Grunde
weder mit den „Proömien," noch mit den l^oore^tKols
etwas gemein, und würde auch, wenn die Proömien
gänzlich fehlten, dennoch in Schriften des Cicero
vorhanden sein. Was aber die Proömien betrifft,
so bezeichnet Cicero (ad Att. 4, 16) diese bestimmt
als eineEigenthümlichkeit der „exoterischen Schriften"
60
und die exoteiischcn Schriften (d. finib. 5, 5.) als
„populäre" im Gegensatz der systematischen. Dass
diese Schriften Dialoge gewesen, ist mit
keiner Sylbe angedeutet. Dagegen stimmt die
Angabe des populären Charakters jener angeb-
lichen Bücher (libri) bei Cicero mit dem überein,
was wir oben als den Charakter der i^ooTs^tKol Koyot
bei Aristoteles erkannt haben.
' Die einzige Frage, welche jene Stellen aus den
Schriften Cicero's uns vorlegen, ist diese: was konnte
den Cicero veranlassen, die xiyovs s^oDTs^tKovs ^ür
Schriften und zwar für Schriften mit Proömien
zu halten? Man wird vielleicht antworten: nichts
Geringeres, als dass er sie vor Augen hatte. Allein
das wäre eines Theils unter den obwaltenden Um-
ständen erst zu beweisen; ist aber anderen Theils
gradezu zu leugnen. Wer erkannt hat, wie wenig
der wahre Aristoteles in den angeblich peripateti-
sehen Darlegungen Cicero's in der Schrift de finibus
wieder zu finden ist, der muss M ad v ig vollständig
darin beistimmen, dass Cicero seine ganze Weisheit,
die er hier entwickelt, aus den Vorträgen und
Schriften des Antiochus geschöpft habe. Wir können
uns nicht enthalten, aus jenes Gelehrten excurs. VII
zu Cic. d. fin. Folgendes zu entlehnen:— illud ani-
madvertendum est, tota illa in libro V. „de finibus"
divisionis scriptorum Aristotelis commemoratio quam
non apte et quam inutiliter a Cicerone interponatur.
Nam quura in toto libro non ex veris fontibus hau-
stam ipsius Aristotelis rationem traditurus sit, sed
eam, quam Antiochus ex variis disciplinis conflatara
tamquam Peripateticam et Piatonicam et scriptis et
ore, ipso etiam Cicerone andiente, tradiderat, ex
ejus unius libris expositurus (cf. lib. V. § 14, 16, 75,
r
V
61
81.), tamen quod hanc doctrinam pro Aristotelis
atque etiam pro Polemonis aut habebat aut saltem
accipere cogebatur, quom orbem praecipuarum disci-
plinarum sententiarumque his libris explere vellet,
nee haberet, unde ipsam veterum doctrinam in cer-
tam formam redactam sumere posset, initium ser-
monis et libri ejusmodi quadam Peripateticorum,
maxume Aristotelis et Theophrasti laudatione exor-
navit, qualem quivis sine uUa ejus philosophiae
accurata cognitione scribere posset qui aliquid de
his viris ex communi literarum Graecarum notitia
accepisset &. Vgl. auch ad Attic. 13, 18, § 5.
Wenn nun durchaus nicht wahrscheinlich ist,
dass Cicero s. g. exoterische Schriften des Ari-
stoteles vor Augen gehabt, deren er keine einzige
zu nennen weiss, so lohnt es sich freilich um so
mehr zu fragen, wie kommt denn er oder sein Ge-
währsmann dazu, nicht: jene „Aövous"") „Schriften"
(libros) zu nennen, das haben ja auch die Gelehrten
fast zweier Jahrtausende gethan, sondern jene an-
geblichen exoterischen Schriften mit Proömien zu
versehen ? Die Antwort lautet : Cicero hat die Glocken
läuten hören, er weiss nur nicht, wo sie hängen.
Es wurde schon erwähnt und nachgewiesen, dass
Aristoteles immer unter exoterische Reden solche
versteht, welche minder streng philosophisch sind,
weshalb ihnen roc koctoc (f)tKo(To<piotv oder ro IttJ Trhsiov
i^ocK^tßovv oder auch stillschweigend die strenge
Wissenschaft entgegengesetzt wird und meistens auch
eine solche mehr streng wissenschaftliche Unter-
suchung folgt. Dadurch nehmen schon von selbst
jene populären Mittheilungen aus den exoterischen
Reden den Charakter von Einleitungen, Proömien,
zu der mehr wissenschaftlichen Untersuchung an.
62
63
Nun kommt dazu, dass Aristoteles grade bei der
wichtigen Einleitung zu seiner Abhandlung über
den besten Staat (Buch 7), wo er gleich im Anfang
sich auf die f^ars^mov^ Koyovs beruft, diesen einlei-
tenden Theil zweimal als ein Proömion bezeichnet
7, l a. E. retZr» Its) rocrovrov sTra 7r€<f>fotiÄte6<rfÄhcc und
7, 3 a. E. iTTs) ie TreCp^oifjito^roct rec vvv slqv\fjLsvot' Ent-
weder hatte nun Cicero selber oder sein Gewährs-
mann an dieser Stelle von den exoterischen Reden
und zugleich von Proömien gelesen, und machte
sich daraus um so eher Proömien der exote-
rischen Schriften zurecht, als auch sonst beim
Aristoteles einleitende, mehr populär gehaltene Be-
trachtungen als proömische bezeichnet werden,
z. B. in der Nikom. Ethik am Ende des ersten
Capitels, in der Eudem. Ethik im Anfang des 7ten
Capitels des ersten Buchs, in der Metaphysik Buch B.
c. 1. — Alle diese proömischen Einleitungen passen
nun aber gar nicht zu Cicero*s Erklärung ; denn sie
linden sich, ausdrüklich als solche bezeichnet, grade
in den systematischen Schriften, in den „Commen-
tariis". Es scheint die Begriffsconfusion in jener
Ciceronischen Angabe eben so vollständig, als nach
seiner ganzen Art erklärlich. Er möchte gerne neben
allem Andern auch ein rechter Aristoteliker sein.
Mit Recht sagt Madvig: perverse autem, si modo
Ciceroni usu noti fuerunt et tractati Aristotelis libri
ethi€i, hie, ubi Antiochi formam doctrinae pro AA-
stotelia propositurus est, illorum librorum mentionem
facit et genera distinguit, in quibus omnia aliter ex-
plicantur. Itaque pannus hie ornatus adven-
titii adsusus est, ut quom rem omnem ab
Antiocho haberet, de Aristotele tarnen ali-
quid diceret.
f
X. Tyrannion, Andronikos, Strabo,
Plutarch, Eustrat.
Von der bekannten Erzählung von der Bibliothek
des Aristoteles und Theophrast wusste Cicero offenbar
nichts. Hätte er diese Erzählung gekannt und auf
die Schriften des Aristoteles bezogen, wie hätte
er sich wohl die Gelegenheit entgehen lassen, von
seiner Kenntniss der Originalschriften, die nun erst
und fast ihm zuerst eine genaue Kenntniss der Ari-
stotelischen Philosophie möglich gemacht, das Nöthige
mit gewohnter Selbstgefälligkeit zu erzählen. Wäh-
rend aber noch Cicero in der abgeschwächten und
verdorbenen peripatetischen Lehre des Antiochus
gänzlich befangen blieb, gewannen die den Cicero
wohl lange überlebenden beiden gelehrten Griechen
Tyrannion und Andronikos Rhodios, jener der
Lehrer des Strabo und dieser ihm wenigstens be-
kannt, aus den durch Sulla nach Rom gebrachten
Schriften des Aristoteles allmälig eine ganz andere
und bessere Einsicht in die Philosophie desselben
und Strabo konnte mit Recht sagen, dass die späteren
Peripatetiker, nachdem jene Schriften herausgekom-
men, besser den Aristoteles verstanden und seine
Philosophie richtiger gelehrt hätten. Andronikos
Rhodios oder wer der Verfasser der Paraphrase der
Nikom. Ethik sein mag, wusste nichts von exoteri-
schen Schriften, sondern erklärte die f^oore^tKoi für
gelegentliche mündliche Aeusserungen*). Er dachte
dabei an Aeusserungen des Aristoteles selbst. Das
allein Richtige giebt Eustrat zu Nik. Ethik 6, 4.**)
*) Paraphr. ad Eth. Nik. 1, c. 13. — ntgi ^vxn? ^oCvtfv
od fAovov Iv evyyQccfifiaatyy akkd xkI ano Cj6/*aT0i n^og tovg
itfTvyx^yoyrai aqxovvttog itnofisy IV*«.
**) 'E^MTiQtxovs d" ovofiaCtt koyovs , ovs i^(o r^s loyixijt
64
„exoterische Reden nennt er (Aristoteles), was
ausserhalb der wissenschaftlichen Lehre die Menge
spricht". Dieselbe Ansicht musste aber auch schon
Plutarth haben, denn sonst hätte er in der bekannten
Stelle adv. Colotem h rols s^oore^tKol^ itochoyoi^ schrei-
ben müssen, nicht, wie jetzt dort mit Rücksicht auf
Metaph. 13, 1. und die dort erwähnten nicht -philo-
sophischen Gespräche ganz richtig gesagt ist: iid
tSv €^(»>r8^iK£v SicchGym» Dass jene „Gespräche ausser-
halb der Schule" ebenso gut itocXoyoi als hiyot ge-
nannt werden konnten, versteht sich von selbst
Wir schliessen hier die Untersuchung. Alle
späteren Nachrichten von exoterischen Schriften
des Aristoteles sind nur eine Fortsetzung des erst
beinahe drei Jahrhunderte nach Aristoteles auftre-
tenden Irrthums. Wenn es schon an sich einleuchtend
ist, dass Gespräche über die Seele, über die Kunst,
über die Weise des Regierens, über die menschlichen
Güter, über die Zeit und die Ideen in Griechenland
und besonders in Athen von der Unterhaltung der
Gebildeten nicht ausgeschlossen waren, so hoffen wir
durch die Betrachtung der einzelnen Stellen, in denen
Aristoteles sich auf solche Gespräche , in vollkom-
mener Uebereinstimmung mit seiner Weise zu phi-
losophiren und zu lehren, bezieht, den Beweis geführt
zu haben, dass durchaus kein gültiger Grund vor-
liegt, jene s^oore^iKove Koyovs von andern Gesprächen
zu verstehen, als denen in der Unterhaltung der
gebildeten Griechen; und dass somit alles hinfällig
ist, was bisher über das frühere Vorhandensein s. g.
exoterischer Schriften des Aristoteles gelehrt und
behauptet worden.
Druck von C. F. Mohr in Kiel.
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